Der Kaiser ist ein Kind

Neue Musik aus dem 17. Jahrhundert: René Jacobs’ Monteverdi-Rekonstruktion „L’incoronazione di poppea“ an der Staatsoper Berlin präsentiert eines der größten Werke der Operngeschichte

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Zu den Dummheiten des Kulturbetriebs gehört es, dass die Musik des 17. in die Schublade „Alte Musik“ eingeordnet und als Liebhaberei von Spezialisten behandelt wird. Auch die Berliner Staatsoper hält es für nötig, extra „Barocktage“ auf den Spielplan zu setzen, um die Opern von Claudio Monteverdi aufzuführen. Was als Orientierung des Publikums gedacht sein mag, ist in Wahrheit eine Irreführung. Im Abstand von jeweils einem Jahr hat unter diesem Label René Jacobs seine Rekonstruktionen der Werke „Orfeo“, „Il ritorno di Ulisse in patria“ und nunmehr „L’incoronazione di Poppea“ vorgestellt: Ereignisse allesamt, die mit den Begriffen des Opernbetriebs nur schwer zu fassen sind. Denn René Jacobs ist mehr als ein sehr guter Dirigent dieser Musik (das ist er auch), er scheint sie für die Gegenwart neu erfinden zu wollen.

Nichts ist langweiliger als der Streit um historische Aufführungen. Natürlich braucht Jacobs ein Ensemble von Sängern und Instrumentalisten, die allesamt Experten für die Musizierpraxis des Barock sein müssen. Aber es geht ihm niemals um die Rückkehr zu einem fiktiven Original, das ideologischerweise für alle Zeiten verbindlich zu sein habe. Im Falle von Claudio Monteverdi gibt es dieses Original nämlich nicht mehr. In gewisser Weise hat es in unserem Sinne überhaupt nie existiert. Das 1643 uraufgeführte Werk entstand in einer Art Werkstatt mehrerer Komponisten, die lediglich unter Aufsicht des damals schon 75 Jahre alten Meisters gearbeitet haben. Von ihm selbst dürften nur die Schlüsselstellen und emotionalen Höhepunkte stammen.

Jacobs gibt im Programmheft Auskunft über die Quellenlage. Außer einem Nachdruck des Librettos sind von der Partitur lediglich zwei Abschriften erhalten, die aus Anlass späterer Wiederaufführungen im Jahr 1651 entstanden. Sie geben die zeitgenössische Bearbeitung für die Bühne wieder, und auch das nur in fragmentarischer Form. Für instrumentale Zwischenspiele ist manchmal nur eine Basslinie überliefert. Man stelle sich vor, dass von Charlie Parker oder Thelonious Monk keine Schallplattenaufnahmen erhalten wären, sondern lediglich Zeitungsberichte und ein paar Notizen zu Melodien und Harmonien. Was wüssten wir vom Jazz?

Umfangreiche musikhistorische Untersuchungen sind notwendig, um aus diesen Fragmenten zu erschließen, wie Monteverdis Musik vielleicht geklungen haben mag. Selbstverständlich kennt sie René Jacobs alle sehr genau, seine große Kunst aber besteht darin, sie vergessen zu lassen. Die „Krönung der Poppea“ klingt in seiner Fassung so vollendet, als könne sie gar nicht anders geschrieben worden sein. Zu hören in der Staatsoper – und stürmisch applaudiert – ist sie nichts Geringeres als eines der größten Werke der Operngeschichte. Zu einem guten Teil liegt das freilich auch am Libretto des venezianischen Intellektuellen Giovanni Francesco Busenello. Offenkundig ging es darum, die Adelsrepublik Venedig vor den Gefahren eines Alleinherrschers zu warnen. Für Monteverdi jedoch war diese politische Polemik nur Nebensache, ihn interessierten allein die Leidenschaften der handelnden Personen. Ihnen schenkte er seine neue Kunst des sprechenden Gesangs, die Jacobs’ Sänger denn auch vollendet beherrschen.

Dieses Gefühl, das Gesang geworden ist, sprengt jede Konvention, auch die der Geschlechter. Kaiser Nero ist ein Sopran. Die Musikwissenschaft streitet darüber, ob es vielleicht doch ein Tenor gewesen sei, Jacobs hat sich für die extremere Variante entschieden; sie macht es möglich, den römischen Kaiser als übellauniges, allein seinen sexuellen Lüsten folgendes Kind zu zeigen, abstoßend und anrührend zugleich. In den Kostümen von Jenny Tiramani erinnert die Sängerin Malena Ernman unweigerlich an die letzten Fernsehbilder von Michael Jackson. Ein gefallener Popstar also herrscht in Monteverdis Rom, das ist so schlüssig und ohne jeden Aktualisierungs-Zeigefinger aus Jacobs’ musikalischer Rekonstruktion heraus entwickelt, wie die gesamte Inszenierung des Briten David McVicar und seines Bühnenbildners Robert Jones. Eine Wand schwarzer, schwenkbarer Spiegel markiert eine Herrschaftskulisse, die ebenso eine Fernsehbühne sein könnte: Davor Herren im Anzug wie Seneca und Poppeas unglücklicher Liebhaber Otho, eine Dragqueen, ein junger HipHopper und weiteres Personal aus Soaps und Talkshows, in denen offenbar schon seit 400 Jahren über Macht, Moral, Sex und Ruhm geredet wird, ohne dass ein Ende abzusehen ist.

Es ist auf verzweifelte Art lustig, keine Sekunde kommt Langeweile auf, denn das Kraftzentrum dieser Bühnenshow ist ganz allein Jacobs’ Monteverdi. Und das ist ein wahres Universum an schier unglaublich intensiver Musik. Man möchte sie gern „modern“ nennen, obwohl natürlich die harmonische und rhythmische Grammatik in eine längst vergangene Zeit zurückweisen. Aber darauf kommt es ja wohl nicht an. Der technische Fortschrittsmaßstab der Neuen Musik ist so dumm wie die Schublade der Alten Musik.

In Jacobs’ Version ist Monteverdi Musik von heute im besten Sinne des Wortes. Ihre eignen Regeln dienen ausschließlich dem Ausdruck unmittelbarer Gefühle, sie appelliert an keinen Bildungskanon und keine Konvention der Oper, sie spricht einfach nur aus, oft schier atemlos, unruhig und ständig das Tempo wechselnd, was los ist in der Seele eines Menschen. Das ist oft nicht besonders erhebend, manchmal quälend und schrecklich, manchmal zum Weinen glücklich. Es ist weder gut noch böse, es ist Musik: Das offenbar war Monteverdis Erfindung, die noch heute nachwirkt.