: Sauber, modern, sozialistisch
Sewastopol, die russische Stadt in der Ukraine, bietet jede Menge Schick aus der vergangenen Sowjetzeit. Die sozialistische Architektur zeigt sich von ihrer besten Seite. Und eine elegante Strandpromenade gibt es auch, nebst opulentem Hafen
VON NICK REIMER
In den letzten Jahren hat Irina Jewgeniga Antonowa viel gesehen: Toronto, New York, Paris. Reiche Russen, die ihre Kinder russischsprachig erziehen lassen wollen, engagierten die Lehrerin aus Sewastopol als Gouvernante. Doch ihre Heimatliebe ist dadurch nicht verblasst: „Sewastopol ist die schönste Stadt der Welt – hell, modern, sauber“, sagt Antonowa. Und ein Vorzug scheint ihr besonders betonenswert: „Sewastopol ist sozialistisch.“
Sauber, modern, sozialistisch: Eigentlich sind das genau die Adjektive, die nahe legen, einen großen Bogen um die Stadt zu machen. Eine moderne russische Stadt, die sauber ist – welch Anachronismus. Zumal diese russische Stadt nicht einmal russisch ist: Mitte der 1950er-Jahre schenkte „Väterchen“ Stalin seinem „Brudervolk“ – den Ukrainern – die Halbinsel Krim. „Aus Dankbarkeit für den gemeinsamen Kampf“, so die offiziell sowjetische Geschichtsschreibung. Die realistischere Version lautet dagegen: Nachdem Stalin in der Ukraine unter Kosaken genauso wie unter Kommunisten gewütet hatte, brauchte er ein positives Signal an die Ukrainer: „Ich liebe euch doch alle!“, wollte er mit der Schenkung zum Ausdruck bringen.
Sewastopol – der Zugang zur Krim vom Meer aus. Noch vor zehn Jahren war es unmöglich, den Südwestzipfel der Halbinsel zu besuchen: Sewastopol, Stützpunkt der legendären Schwarzmeerflotte, der sozialistischen Speerspitze zu Wasser, war eine geschlossene Stadt.
„Wer diese Stadt besitzt, besitzt die Krim“, soll Lew Nikolajewitsch Tolstoi 1855 behauptet haben. Vor den Toren standen Franzosen und Türken, und Tolstoi selbst schoss zurück. „Sewastopol im Dezember“, „Sewastopol im Mai“, „Sewastopol im August“ – Alexandr Puschkin druckte in seiner Zeitschrift Sowremennik (Der Zeitgenosse) drei Berichte Tolstois über die Verteidiger im ersten Krimkrieg.
„Das zerstörte Pompeji befindet sich in einem guten Zustand – verglichen mit Sewastopol“, schrieb Mark Twain, als er die Stadt nach dem Krieg besuchte. Das war noch gar nichts. „Die Faschisten haben nur neun Häuser übrig gelassen“, erklärt Irina Jewgeniga Antonowa. Was dem Autoren dieser Zeilen ein sehr mulmiges Gefühl verschaffte: Auch sein Großvater hatte Sewastopol zuerst 250 Tage lang mit bombardiert – und dann eingenommen. Aber das nimmt Antonowa nicht übel. Schließlich baute sie Sewastopol wieder mit auf – mit Stalins Zuckerbäcker-Architektur. „Deshalb ist die Stadt so schön.“
Die Frankfurter Allee in Berlin, das Stadtzentrum in Dresden oder Magdeburg, die Polit- oder Kulturpaläste in Warschau, Prag oder Bukarest – die stalinistische Architektur ignorierte großzügig Realitäten und prägte dennoch Innenstädte in halb Europa. Kann der architektonische Stalinismus überhaupt schön sein? Zum Beispiel Moskau: Um zum symbolischen Mittelpunkt der Sowjetunion, ja der gesamten „progressiven Welt“ zu werden, wurden in den 1940er-Jahren quer durch die Altstadt neue Magistralen geschlagen, die bis heute überdimensionierte Prunkbauten säumen.
In Sewastopol ist das ganz anders. Selten sind Gebäude hier höher als vier Geschosse, „Leitbauten“ wie etwa die Moskauer Lomonossow-Universität sucht man vergebens. Stattdessen suggeriert der Zuckerbäckerstil eine ungemein freundliche Leichtigkeit: Die Stadt ist hell, ihre Straßen breit, die Häuser wirken durchgehend vornehm. Von Säulen gestützt, mit Erkern verziert, monumental wie etwa der „Club der Seeleute“ – die sozialistische Architektur in Stalins Stil atmet hier jene Bürgerlichkeit, die der sozialistische Kosmopolitismus stets anstrebte.
Nicht nur die Architektur: Diese Stadt wirkt, als ob sie jede Sekunde einen Zapfenstreich überstehen müsste. Irina hatte geprahlt, dass man „in meiner Stadt“ nicht einmal Zigarettenstummel finde. Tatsächlich kann Sewastopol getrost als die sauberste Stadt der Ukraine bezeichnet werden – wenn nicht gar Europas.
Das hat viel mit dem Militär zu tun: Getreu der russischen Sitte rasselte Moskau Mitte der 1990er-Jahre ähnlich ernsthaft mit dem Säbel wie jüngst beim russisch-ukrainischen Gasstreit. Damit sicherte sich die benachbarte Supermacht schließlich eine Art Hoheitsrecht – vorerst bis 2019.
Russische Flaggen, russische Uniformen, russische Autokennzeichen, russischer Stolz – Sewastopol hat tatsächlich ein russisches Gesicht. Allerdings eines, das eher von sozialistischer Vergangenheit als russischer Gegenwart geprägt ist: Uniformen gelten hier noch als vorteilhafte Visitenkarte; die Stadt als Hort strahlender Zuversicht. Das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben in der Hafenstadt ist sowjetisch dominiert – die Zugehörigkeit zur Ukraine wird genauso ignoriert wie das Ende der Sowjetunion.
Dem versucht die ukrainische Minderheit unter den vierhunderttausend Einwohnern neuerdings verstärkt zu begegnen: „Nationalism!“ steht auf den Plakaten, die Zeitungen erscheinen auf Ukrainisch, und auf Museen und Theatern weht das ukrainische Blau-Weiß. Als wollten die Flaggen sagen: Mag sein, dass ihr die militärische Gewalt habt – wir aber sind die Kultur.
Sewastopol, die Stadt der Denkmäler: Rund zweitausend sollen es sein, die fast ausschließlich an die militärische Vergangenheit erinnern. Sewastopol, die Stadt der Panoramen: Antike Ruinen, Reste mittelalterlicher Wehranlagen, Museen, Theater, einen großen Hafen nebst eleganter Strandpromenade – Sewastopol hat auch das zu bieten. Und trotzdem ist das alles völlig nebensächlich: In Sewastopol lebt der Sozialismus. Wenigstens ein bisschen.