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Archiv-Artikel

Das Skelett der Straße

STRASSENBAU Der Winter verabschiedet sich, aber er hinterlässt uns eine reiche Auswahl von Schlaglöchern. Die erfüllen Politik und Bürger gleichermaßen mit Abscheu. Das Schlagloch ist die Ratte des öffentlichen Raums – und rational ist das nicht zu erklären. Eine Betrachtung

VON FRIEDERIKE GRÄFF

Manche sehen aus wie Stiefel, andere wie Raubfische mit großen Flossen. Es gibt aber auch kaninchenartige und Seenlandschaften unter ihnen. Kein Schlagloch ist wie das andere. Aber das Entsetzen vor ihnen ist groß. Von Schlagloch-Alarm schreiben die Zeitungen und Politiker, bemühen allen Ernstes den „Ernst der Lage“. Vielleicht fürchten sie den Volkszorn entfesselter Autofahrer, die den Abbau des Sozialstaats und die Nonchalance gegenüber den Verantwortlichen der Bankenkrise hingenommen haben. Aber dieses Schlagloch-Elend eben nun nicht mehr.

Wird man auf der Suche nach einem Experten für Schlaglöcher im Bundesverkehrsministerium vorstellig, dann wird man an die Abteilung für Straßenerhalt verwiesen. Dort wirken die natürlichen Feinde des Schlaglochs, das unter Fachleuten übrigens nicht Schlagloch heißt, sondern „Ausbruch“. Ausbrüche werden hier unterschiedlich dringlich verfolgt, es ist ein Klassensystem, an dessen Spitze die Autobahnen stehen und am Ende die untergeordneten Straßen. „Ein Schlagloch auf einer Autobahn wäre tödlich“, sagt einer der Experten vom Verkehrsministerium – und er fügt an, dass er das in jeglicher Hinsicht meine.

Aber dennoch: Schlaglöcher wird es immer geben. Sie entstehen, sobald die Straße altert. Dann gibt es Risse und sobald diese sich bei mit Wasser füllen, das wiederum im Winter friert und wieder auftaut, entstehen die Ausbrüche. Die Ausbrüche, und das ist die Verewigung des Zweiklassensystems unter den Straßen, sind vor allem auf Nebenstraßen zu finden: weil Schäden dort oft nur notdürftig repariert werden. Der Ausbruch, könnte man sagen, ist wie eine schlecht verheilte Wunde – und das führt dann zu der Frage, warum die Schlaglöcher die Menschen so aufbringen.

Die Menschen im Verkehrsministerium etwa verstehen diese Aufregung nicht und es scheint so, als seien sie daran auch nur mäßig interessiert. Die Pressestelle der Hamburger Behörde für Stadtentwicklung äußert immerhin einen Verdacht, aber den soll man nicht aufschreiben. Also kann man nur spekulieren. Die nahe liegende Spekulation ist folgende: Die Menschen stören sich an den Schlaglöchern, weil sie die Straßen und ihren Erhalt als dringliche Aufgabe ihres Staates und ihrer Stadt empfinden. Sie betrachten die Aufbrüche, und auch wenn sie ihre Steuern nicht in dem Umfang zahlen, in dem sie es müssten, sehen sie sich nun geprellt in ihrem Steuerzahleranrecht auf unversehrte Straßen. Sie sind weiterhin aufgebracht, weil sie um die Stoßdämpfer ihrer Autos fürchten.

Aber kann das alles sein? Ist es nicht so, dass im Bürger, der sieht, wie sich die sicher geglaubte Asphaltdecke auflöst, Angst vor einer ganz anderen Auflösung aufsteigt? Dass er sich in eine osteuropäische Schotterpisten-Umgebung absteigen sieht, weil die Straße für ihn doch Visitenkarte seiner Stadt ist und nun zerfällt sie vor seinen Augen?

Die durchschnittliche deutsche Straße lebt 20 Jahre, dann ist es aus mit ihr. Sie ist nach dem Regelwerk für die Standardisierung des Oberbaus von Verkehrsflächen 80 Zentimeter stark und besteht aus einer Oberschicht, deren Asphaltdecke bei untergeordneten Straßen 15 Zentimeter dick ist und bei höher belasteten 30. All dies sagt der Sachverständige aus dem Verkehrsministerium. Aber er sagt auch, dass es „eine diffizile Angelegenheit“ sei mit der kommunalen Straße. Denn die kommunale Straße ist vielfach auf dem Wildwuchs der Geschichte gebaut, auf eine Kopfsteinpflasterschicht legte man Asphalt, sobald Bedarf und Geld vorhanden waren. Wer jetzt in ein Schlagloch sieht, sieht in die Geschichte. Er sieht Kopfsteinpflaster, das 30 oder sogar 100 Jahre alt ist. Das Pflaster hat zwei Weltkriege erlebt, es hat drei Generationen kommen und gehen sehen und irgendwann hat man es zugedeckt, aber im Untergrund ist es doch geblieben.

Das Pflaster erinnert den Betrachter unerfreulich an die eigenen Knochen, die da sind und eigentlich nicht sichtbar, die ihn stützen, aber doch daran erinnern, dass er einmal nur dass sein wird: Skelett und dann gar nichts mehr. Der Feind des Schlaglochs schreckt vor der eigenen Vergänglichkeit zurück, könnte man sagen. Deshalb haben die Politiker irgendwie schon recht, wenn sie vom Ernst der Lage sprechen. Aber sie glauben, dass alles gut wird, wenn sie nur mehr Geld in die Hand nehmen. Und da könnten sie sich täuschen.