„Normalität ist für mich nicht attraktiv“

DIFFERENZ Seit 40 Jahren erforscht Martin Dannecker die Homosexualität – zurzeit vor allem im Internet. Bekannt wurde der Soziologe Anfang der 70er mit einem Film, der Schwulen ihre Anpassung an die bürgerliche Gesellschaft vorwarf. Den normativen Druck der Hetero-Mehrheit spürt Dannecker bis heute

■ Der Weg: Martin Dannecker, 1942 geboren, wächst in dem Schwarzwaldstädtchen Dornhan auf. Nach der Volksschule absolviert er eine Ausbildung zum Industriekaufmann. Mit 18 Jahren geht er nach Stuttgart, um Schauspieler zu werden – gegen den Willen der Familie. 1966 zieht er nach Frankfurt, knüpft Kontakte zur linken Szene und arbeitet als wissenschaftliche Hilfskraft in der Soziologie. Er holt sein Abitur nach und studiert Philosophie, Soziologie und Psychologie. 1971 arbeitet er gemeinsam mit dem Regisseur Rosa von Praunheim an dem Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“.

■ Der Forscher: 1974 publiziert Dannecker gemeinsam mit dem Psychoanalytiker Reimut Reiche die erste große quantitative Studie über Homosexuelle, „Der gewöhnliche Homosexuelle. Eine soziologische Untersuchung über homosexuelle Männer in der BRD“. Ab 1977 arbeitet er am Institut für Sexualwissenschaft in Frankfurt am Main und habilitiert sich dort im Fach Sexualwissenschaft. Seine Forschungsschwerpunkte sind die männliche Homosexualität, HIV/Aids, Pädosexualität sowie die Theorie der Sexualität. Seit seiner Emeritierung 2005 lebt der passionierte Raucher in Berlin. Er forscht seither über Internetsexualität und hat 2011 mit anderen die Studie „NetzLust2011“ durchgeführt (www.internetsexualitaet.de).

INTERVIEW GESA STEEGER UND SUSANNE MEMARNIA
FOTOS WOLFGANG BORRS

taz: Herr Dannecker, wir würden zu Beginn gerne eine alte Streitfrage klären. Ist Berlin nun die Schwulenhauptstadt Deutschlands oder Köln?

Martin Dannecker: Das ist Berlin, da bin ich ziemlich sicher. Zum einen lebt Berlin von dem Mythos, das es mal die erste Stadt war, in der Anfang des vorigen Jahrhunderts so etwas wie eine Homosexuellenemanzipation stattgefunden hat. Zum anderen ist der Anteil der schwulen Einwohner in Berlin viel höher als in Köln. Das liegt auch daran, dass zu Mauerzeiten viele hierherkamen, weil es in Berlin keine Wehrpflicht gab. Das ist für mich so eine Erinnerung, weil ich für viele schwule Männer Bundeswehrgutachten erstellt habe.

Was war denn das?

Es gab damals viele schwule Männer, die panische Angst davor hatten, in einer geschlossenen Männergemeinschaft wie der Bundeswehr zu leben. Nicht zu Unrecht. In so einer engen Gemeinschaft verdichtet sich eine latente Homophobie manchmal zu heftigen Aggressionen. Daher konnte man ein Gutachten machen, in dem man die Konflikte beschrieb und sagte, dieser Mann darf aus diesen Gründen nicht zur Bundeswehr gehen.

Warum sind Sie nach der Emeritierung 2005 hierher gezogen?

Nach 40 Jahren Frankfurt am Main hatte ich mich entschieden, noch mal eine Zäsur zu machen, damit nicht alles immer so weitergeht. Hinzu kam, dass mein damaliger Freund kurze Zeit vorher nach Berlin gezogen war. Aber nur wegen der Beziehung wäre ich nicht nach Berlin gekommen. Ich habe auch vorher schon mal erfolgreich eine Fernbeziehung von Frankfurt nach Zürich geführt.

Gehen Sie noch aus in der Szene? Oder hocken Sie als Erforscher der Internetsexualität nur noch vor dem Computer?

Nein, ich geh schon noch manchmal in die Szene. Um was von der Atmosphäre zu schnuppern. Es hat sich viel verändert. Da sich ein großer Teil des Kennenlernens ins Internet verlagert hat, findet einfach weniger in der traditionellen Schwulenszene statt. Ich habe den Eindruck, dass die Atmosphäre in den Bars sozialer geworden ist und sich das sexuelle Aroma weitgehend verflüchtigt hat.

Das hört sich an, als vermischte sich beim Ausgehen Arbeit mit Vergnügen.

Nicht so sehr. Ich lasse mich da sozusagen als Privatmensch darauf ein. Aber ich habe immer über das, was ich selber mache, reflektiert: Was ist meine eigene Erfahrung? Was wird behauptet über die Existenz von schwulen Männern? Ich glaube bis heute mit Michel Foucault, dass der Mensch ein Erfahrungstier ist. Ich wollte nie ein Wissenschaftler sein, der alles nur am Schreibtisch erdenkt. Ich wollte mich auf das, was man Wirklichkeit nennt, einlassen.

Sie praktizieren ja in Ihrem Forschungsfeld auch die „teilnehmende Beobachtung“. Wie geht das bei Internetsexualität? Das betrifft doch Ihre Intimsphäre, wenn Sie etwa in Sexforen chatten und erregt werden.

Natürlich wird man dabei auch sexuell erregt. Das ist wirklich Arbeit, sich dann wieder zurückzunehmen. Aber die Methode funktioniert nur, wenn man sich auf die Situation einlässt. Ich benutze meine Interaktionspartner im Internet nicht von vorne herein als Forschungsobjekte. Teilnehmende Beobachtung als Methode hat immer davon gelebt, dass es den teilnehmenden Forschern und Forscherinnen gelingt, sich auf die Situation einzulassen. Die Aufgabe, die sich einem dann stellt, ist, sich anschließend aus der Situation rauszubewegen und darüber zu reflektieren, was sich ereignet hat, warum es sich ereignet hat.

Sie nennen das Internet das größte Warenhaus der Sexualität. Was gibt es da, was Sie besonders reizvoll finden?

Das hat zwei Seiten. Der Begriff des Warenhauses ist natürlich auch kritisch gemeint. Im Internet ist alles möglich, man bekommt alles. Alle sexuellen Formen, die bisher irgendwo anders versteckt und vereinzelt waren, erscheinen hier in organisierter Form. Was mich besonders am Internet interessiert, ist die Frage, ob über das Chatten sexuelle Wünsche generiert werden. Ich bin zutiefst davon überzeugt und wir können es, glaube ich, auch empirisch belegen.

Sexuelle Wünsche entstehen erst durchs Chatten?

Ja, genau. In den Begegnungen der sogenannten realen Welt werden auch immer sexuelle Hemmungen aufgebaut. Die sind einfach Teil der alltäglichen sexuellen Kommunikation. Durch das Chatten werden die eigenen sexuellen Hemmungen vorübergehend außer Kraft gesetzt. Das hat sicherlich mit der vermeintlichen Anonymität und mit dem virtuellen Raum zu tun. Dieses Außerkraftsetzen ermöglicht das Bewusstwerden latenter unbewusster Wünsche. Welche Wirkung diese Wünsche auf die reale Sexualität haben, ist die spannende Frage.

Durch Internetplattformen wie GayRomeo, auf der sich schwule Männer potenzielle Sexualpartner nach Bildern aussuchen, entsteht der Eindruck, in der Schwulenszene sei es besonders wichtig, jung und schön zu sein. Wie schwierig ist es, schwul und alt zu sein?

Die Fetischisierung der Jugend ist in der schwulen Subkultur besonders weit durchgesetzt, aber natürlich nicht nur da. Die kennen wir in der gesamten Kultur. Man kann aber sagen, dass im Internet ab einem bestimmten Alter über das eigene Alter gelogen wird. Es wird nach unten korrigiert. Das machen die im Internet aber offensichtlich so erfolgreich, dass bei der realen Begegnung keine Irritation aufkommt.

Kennen Sie selbst nach 40 Jahren Sexualwissenschaft noch Tabus oder Scham?

Natürlich kenne ich Scham. Ich denke, sie gehört ein Stück weit zur Sexualität. Das hat mit den frühkindlichen Erfahrungen zu tun. Unabhängig vom professionellen Gegenstand gibt es ja auch so etwas wie eine private Person mit allen Schwächen und möglichen sexuellen Irritierbarkeiten.

Sind nicht gewisse Tabus auch notwendig? Die Pädophilentoleranz der 70er etwa war aus heutiger Sicht ein ungeheuerlicher Fehler.

Erst einmal finde ich es richtig, dass fast alle klassischen sexuellen Tabus weggefallen sind, dass es heute individuelle sexuelle Entscheidungen geben kann – unter der Bedingung, dass es ein vernünftiges Subjekt auf der anderen Seite gibt, das Ja oder Nein sagen kann. Das gilt für die Pädosexualität nicht. Ein Kind hat kein sexuelles Objekt und deshalb ist dieses Tabu, unabhängig davon, dass eine sexuelle Begegnung für das Kind immer mit Traumatisierung einhergeht, völlig gerechtfertigt.

Die sexuelle Revolution der 70er Jahre ging hier zu weit?

Man darf eines nicht vergessen, auch jetzt in der Debatte über Daniel Cohn-Bendit: Die Voraussetzungen damals waren andere. Wir hatten nicht diesen massiven Diskurs über Missbrauch. Damals hat eine Gruppe nach langer Zeit wieder einen sexuellen Anspruch artikuliert: Es ging den sogenannten 68ern darum, ihre Sexualität selbst zu bestimmen. Gesellschaft und Staat sollten sich gefälligst aus der Sexualität raushalten. Da war es nicht erstaunlich, dass die Pädosexuellen versuchten, sich dieser Bewegung anzuschließen. Heute gibt es das andere Extrem: Der Missbrauchsdiskurs hat uns allen einen pädosexuellen Blick aufgedrängt. Was ich damit meine, ist, dass wir durch den Missbrauchsdiskurs alle – bis hinein in die Familien – gehemmter im Umgang mit Kindern geworden sind.

Weil Eltern Angst haben, sich schuldig zu machen?

Zumindest sind viele verunsichert im Umgang mit der frühkindlichen Sexualität. Ich kann mich gut erinnern, dass Freunde aus dem Urlaub kamen und Bilder zeigten, auf denen ihre Kinder nackt am Strand zu sehen waren. Diese Bilder hat man mit Selbstverständlichkeit in der Gruppe angeschaut. Ich bin sicher, dass das gegenwärtig, wenn es überhaupt noch stattfinden würde, Irritationen in der Gruppe auslösen würde.

Wenn jetzt mit dem Internet andere Schranken und Tabus fallen: Ist das die sexuelle Revolution, von der viele nicht mehr zu träumen gewagt haben?

Nein, so weit geht es nicht. Durch bestimmte Erfahrungsprozesse im Internet ist es möglich, über die eigenen sexuellen Formen, in die man hineingeraten ist, noch mal nachzudenken. Wie ein kluger Analytiker sagte: Es gibt eine individuelle Diktatur der Sexualität. Innerhalb dieses Rahmens darf man handeln, das Überschreiten scheint nicht mehr möglich. Da hilft unter Umständen die Erfahrung im Internet dabei, diesen Rahmen etwas zu erweitern und die alltägliche sexuelle Erfahrung zu durchkreuzen. Aber sexuelle Revolution in dem Sinne, dass die Sexualität ganz frei von Konflikt werden könnte, das wird es nicht geben.

Sie sind im Schwarzwald der Nachkriegszeit aufgewachsen. Wie war Ihr Coming-out?

„Manchmal muss man auch eine bestimmte Form der Rücksichtslosigkeit in Kauf nehmen“

Ich glaube, ich habe mein aufkommendes Fasziniertsein von einer gleichgeschlechtlichen Sexualität in der Zeit, in der ich noch in diesem kleinen Kaff war, erfolgreich verleugnet. Als ich dann mit 18 wegzog, war ich aber fällig. Kaum dass ich in Stuttgart, also in der ersten Großstadt, in der ich lebte, ankam, hatte ich meine erste bewusste homosexuelle Begegnung.

Wie hat Ihr Umfeld reagiert?

Die wussten es einerseits, aber wir hatten damit so einen Umgang, der typisch war in solchen Familien: Don’t ask, don’t tell. Dann wurde es allerdings ziemlich heftig, als ich an dem Film von Rosa von Praunheim, „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“, beteiligt war. Anfang 1972 wurde er im Fernsehen ausgestrahlt, und ich nahm an der anschließenden Fernsehdiskussion teil. Als mein Vater mich am Morgen danach anrief, war er zutiefst empört. Er sagte mir, dass meine Mutter nicht mehr einkaufen gehen könne aus lauter Scham. Da habe ich gedacht: Na ja, gut, das wollte ich nicht. Aber trotzdem war es für mich keine Frage, diesen Schritt in die Öffentlichkeit zu machen. In bestimmten Situationen, wenn man glaubt, etwas erreichen zu können, muss man auch eine bestimmte Form der Rücksichtslosigkeit ertragen.

Ein Kritikpunkt des Films war das angepasste Verhalten der Schwulen an die bürgerliche Gesellschaft. Heute sind Homosexuelle dort angekommen, haben fast alle Rechte wie Heteros, sie sind Bürgermeister, Minister. Anpassung war also doch die richtige Strategie?

Na ja, da muss man genau hinschauen. Die Gleichstellungsforderung ist eine bürgerrechtliche Forderung und fraglos völlig gerechtfertigt. Aber das schwule Leben wird manchmal bürgerlicher dargestellt, als es ist. Die schwule Lebensweise auch von Paaren unterscheidet sich cum grano salis immer noch von der der Heterosexuellen. Unter schwulen Männern gelten andere Liebes- und Beziehungsvorstellungen als unter Heterosexuellen. Aber uns ging es damals um etwas anderes: Es war für uns nicht denkbar, dass wir in dieser Gesellschaft, die mit unglaublich viel sexueller Repression behaftet war, ein gutes Leben führen könnten. Damals ging es ja sehr moralisch zu – sicher eine Reaktion auf den Nationalsozialismus. Und wir konnten uns eine freie schwule Sexualität in dieser repressiven Gesellschaft nicht vorstellen. Zur sexuellen Emanzipation war auch die grundsätzliche Veränderung der Gesellschaft notwendig, dachten wir. Aber am Ende kam die Integration der Schwulen in das kapitalistische System dabei heraus.

Also gerade nicht das, was sie wollten.

Das ist ja oft so: Die Geschichte verläuft selten so, wie man sich das vorstellt. Und das ist auch gut so, sonst würde man größenwahnsinnig. Aber ich glaube schon, dass ein Teil der Forderung nach Gleichstellung etwa bei der Ehe dem Wunsch nach Anerkennung und Normalität entspringt und auf Anpassung an die immer noch heteronormative Gesellschaft hinausläuft.

Heute kann mehr oder weniger jeder leben, wie er oder sie will. Sie haben mal gesagt, sie sähen die Gefahr, dass „das Andere mehr und mehr normalisiert wird“. Wo ist das Problem?

Es gibt offensichtlich unter den schwulen Männern eine weit verbreitete Sehnsucht nach Normalität. Die verstehe ich nicht. Ich verstehe sie deshalb nicht, weil ich nicht weiß, was an der Normalität attraktiv sein soll. Ich bin dem Normalitätsverlangen gegenüber zutiefst skeptisch, weil ich denke, Normalität gemeindet immer ein. Und ich war immer ein Theoretiker der Differenz. Auf dem Differenten zu beharren bei gleichzeitigem Anspruch der Normalität scheint mir die dialektische Formel dafür zu sein. Das ist ja immer der Prüfstein für eine freie Gesellschaft, ob sie Differenz zulässt oder ob sie von Minderheiten verlangt, das Differente an ihnen zum Verschwinden zu bringen.

Sie leben in Wilmersdorf, sind emeritierter Professor, also ganz klar Bürgertum. Was ist noch „anders“ an Ihnen?

Eine gute Frage. Ich lebe in einem relativ bürgerlichen Rahmen. Ich gehörte auch immer zu den Linken, die bürgerliche Errungenschaften hoch geschätzt haben. Ich wollte zwar die mit dem Kapitalismus einhergehenden schlechten Verhältnisse nicht, aber das, was man bürgerliche Kultur nennt, habe ich immer geschätzt und in der Studentenbewegung verteidigt. Was ein Tabu war. Insofern habe ich immer ein bürgerliches und zugleich ein unbürgerliches Leben geführt. Aber ich glaube nicht, dass ich im klassischen Sinne für einen Bürger gehalten werde. Oder bestenfalls, so wie mal in einem Porträt über mich als Überschrift stand: Bürger wider Willen. Dass ich auch ein Stück weit eingemeindet wurde – man kann es nicht ganz aufhalten. Aber meine frühe und durchaus auch leidvolle Erfahrung des Andersseins bewahrt mich davor, in der Bürgerlichkeit zu versinken.