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Archiv-Artikel

Regt euch auf!

ARGUMENTE Facebook angezapft, Seekabel abgehört – Überwachung überall. Viele winken trotzdem ab: Wovor soll ich denn Angst haben? Drei Experten erklären, warum solche Sätze fatal sind

KONZEPT JOHANNES GERNERT

Die enorme Menge an Informationen, auch in der damals analogen Welt der Stasi, hat den Staat nicht daran gehindert, diese Daten zu sortieren und im Bedarfsfalle Informationen zu einer Person herauszufiltern. In der DDR sind damit vor allem Menschen verfolgt worden, die ihre Menschenrechte wie das Recht auf freie Meinungsäußerung oder Freizügigkeit wahrnehmen wollten. Man sollte sich als Bürger also jederzeit Sorgen machen, wenn der Staat die Grundrechte nicht respektiert.

Man hat das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, darauf, dass man selbst bestimmen kann, wer Daten über einen sammelt und verwahrt. Darauf, dass der Staat das Post- und Telekommunikationsgeheimnis respektiert und es nur unter richterlich abgesegneten Bedingungen einschränken darf.

Genau da behauptet die Demokratie ihren Unterschied zur Diktatur, in der kontrollierten und nur temporären Einschränkung von Grundrechten. Wo wir hinkommen, ohne funktionierende demokratische Kontrolle, die klare Regeln zum Schutz der Bürger sicherstellt, wissen wir aus der Geschichte.

In der DDR hat die Stasi sich jederzeit das Recht genommen, das Telefon- und Briefgeheimnis der eigenen Bürger zu verletzen. Und niemand hat darüber berichtet und diese Aushöhlung garantierter Rechte öffentlich anprangern können. Der Staat hat dann die gewonnenen Informationen ohne weiteres benutzt. Datenmengen, wie groß auch immer, wecken Begehrlichkeiten. Es ist nur eine Frage von Zeit und Aufwand, sie auszuwerten. Missbrauch ist programmiert, auch durch den Staat, der eigentlich seine Bürger schützen soll. Umso wichtiger ist es, dem Staat auf die Finger zu schauen, wenn er der Versuchung erliegt, seine Macht zu missbrauchen.

Und jetzt?

Sich damit beschäftigen, wie Gesellschaften funktionieren, in denen Menschenrechte systematisch eingeschränkt wurden und werden, um zu erkennen, wenn in der Demokratie etwas schiefläuft.

Roland Jahn, 59, ist Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen

Das wohlige Gefühl, auf den Schutz seiner Daten verzichten zu können, weil man sich ja nichts hat zuschulden kommen lassen, entspricht der Bewusstseinslage des modernen Untertanen. Kollektiver Fatalismus und Gleichgültigkeit ebnen den Weg zur umfassenden Ausspähung durch staatliche Instanzen. Sie schaffen erst die Bedingung für eine totale Überwachung, bei der sich jeder, der Einwände erhebt, automatisch einem Generalverdacht ausgesetzt sieht, er sei Täter – und sei es nur in seinen Gedanken.

Facebook, Google und AOL sowie die anderen betroffenen Unternehmen müssen jetzt schnell und umfassend aufklären. Die Frage ist, ob sie das überhaupt können, weil sie ja vielleicht Verschwiegenheitspflichten unterliegen. Alles, was gesagt wird, könnte anzuzweifeln sein.

So entsteht ein Kreislauf des Misstrauens. Der einzige Weg, ihn zu durchbrechen: Die Unternehmen müssen absolut transparent informieren. Wir erwarten gerade Antworten von ihnen auf die Frage, welche Zugriffsmöglichkeiten die Geheimdienste haben und auf welche Daten sie zugreifen.

Google hat seit 2012 eine Datenschutzerklärung, die es dem Unternehmen ermöglicht, die Daten der Nutzer diensteübergreifend zu Megaprofilen zusammenzuführen. Damit bieten sich auch Nachrichtendiensten bessere Möglichkeiten einer personenbezogenen Auswertung. Vorlieben, Hobbys, Essgewohnheiten, Standortdaten, politische oder religiöse Überzeugungen, sozialer Umgang – die Welt des Einzelnen lässt sich aus der Masse seiner Daten minutiös rekonstruieren. Es ist daher wichtig, bereits vorab die Grenzen einer zulässigen Datenverarbeitung möglichst transparent für die Nutzer festzulegen.

Der Hamburgische Beauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit bereitet im Rahmen einer europäisch koordinierten Aktion eine Anordnung gegen die neuen Privatsphärebestimmungen vor. Für manche hat das alles immer noch eine abstrakte Note, weil nur wenige Fälle bekannt sind, in denen jemand etwa falsch verdächtigt wurde – wie der ehemalige Guantánamo-Häftling Murat Kurnaz. An Menschen wie ihm wird vieles begreifbarer.

Wenn solche Fälle allerdings massenweise auftreten würden, dann wäre es schon zu spät.

Wir müssen aufhören, digitale Untertanen zu sein. Sonst droht am Ende der Verlust der Freiheit für alle.

Und jetzt? Bürger sollten von der Bundesregierung und der Europäischen Kommission vorbehaltlose Aufklärung fordern. Diese müssen ihre digitalen Grundrechte schützen. Die Möglichkeiten der Verschlüsselung und die Nutzung vermeintlich sicherer Dienste sollte jeder erwägen. Wichtig: Rein defensive Maßnahmen des Selbstschutzes werden die Freiheit nicht zurückholen. Erforderlich sind maximale Transparenz sowie öffentliche Kontrolle über Sicherheitsbehörden auf nationaler und internationaler Ebene. Der Ball liegt im Spielfeld der Politik.

Johannes Caspar, 51, ist Hamburgs Datenschutzbeauftragter und für Google, Facebook und AOL zuständig

Hast du diese Woche Zeit zum Quatschen, bevor ich Amerika zerstöre? Kuss“, twitterte ein britischer Tourist vor einem geplanten Partytrip nach Los Angeles. Dort angekommen, wurden Leigh Van Bryan und eine mitreisende Freundin verhaftet, für zwölf Stunden festgehalten und ausgewiesen. „Obama soll aufpassen, wegen der Selbstmordattentäter“, hat ein dreizehn Jahre alter Schüler in den USA gepostet – aus Besorgnis. Die Systeme verstanden darunter eine Drohung und das FBI stand in der High School von Vito Lapinta.

Es gibt auch die alltäglichen Fälle: Bei meinem letzten Flug nach Washington wurde ich von vier „S“ auf meiner Bordkarte überrascht. Ich wurde daraufhin „sonderbehandelt“. Begründung: Ich stand auf einer amerikanischen Liste für das „Secondary Security Scanning Scheme“. Die Gründe kennt Austrian Airlines nicht. Unzählige weitere Beispiele haben sich angehäuft. Die meisten haben wir wieder vergessen – oder verdrängt. Aber selbst wenn man als Normalbürger vieles verdrängen kann, möchte ich in einer Gesellschaft leben, in der meine Mitbürger sicher vor derartigen Repressionen sind. Vor allem Andersdenkende sollten in einer Demokratie in keiner begründeten Paranoia leben müssen. Aber wie will man dieser Situation begegnen? Die Verschlüsselung jeder einzelnen E-Mail? Dinge nicht mehr ins Netz stellen, also Selbstzensur? Im Versuch, so eine freie Gesellschaft zu retten, geben wir genau diese Schritt für Schritt auf.

Und jetzt?

Wir brauchen eine Politik, die statt „einfacher Lösungen“ moralisch hochwertige Wege beschreitet. Und wir brauchen Bürger, die das aktiv verlangen – über die nächsten Wochen und den aktuellen Anlass hinaus.

  Max Schrems, 25, ist Gründer der Organisation Europe versus Facebook, die Facebook, Apple und Yahoo wegen ihrer Kooperation mit der NSA angezeigt hat. europe-v-facebook.org