: Die Rückkehr des lebenden Politbüros
Tamarud, Aufstand! Nur ein Jahr hat Präsident Mursi gebraucht, um Millionen von Ägyptern klarzumachen, dass er ihre Interessen auf keinen Fall vertreten wird. Ist dem Multimillionär doch egal, dass sie ihm ihre Stimme gaben, damit es ihnen besser ginge. Jetzt ist er gestürzt, der Antidemokrat, der die Wahlen nur benutzte, um Demokratie zu verhindern. Das Militär griff ein, und die Generäle wählten alleine den neuen Präsidenten. Sie sind jetzt das Volk.
Dieser Übergangspräsident, der ehemalige Verfassungsrichter Mansur, sieht dabei so schlecht gelüftet aus, als sei er geradewegs dem sowjetischen Politbüro entstiegen. Dieser Mann soll den endgültigen wirtschaftlichen Zusammenbruch des Landes verhindern? Nein, das soll er natürlich nicht, er soll Marionette sein und das Militär, das einen Großteil der inländischen Unternehmen besitzt, nicht weiter stören.
Und während die Ägypter ihren Sieg über den falschen Präsidenten feiern und ein gigantisches Feuerwerk abbrennen, hat der Militärrat schnurstracks die Verfassung kassiert und den einschlägigen Medien per Razzia gezeigt, dass jetzt Schluss ist mit der freien Berichterstattung. Mursi samt weiterer Granden der Muslimbrüder sitzen fest, 300 weitere Haftbefehle gegen Muslimbrüder sollen bereits ausgestellt sein. Wie in alten Zeiten. Und die westliche Welt?
Die brauchte ein bisschen, bis sie die Augen wieder auf den Tahrirplatz richtete. Die Aufstände nehmen ja kein Ende, und eigentlich war man noch mit der Türkei und Brasilien beschäftigt. Inzwischen aber macht sich der Westen Sorgen, und Obama mahnt, bitte schnell wieder Wahlen auszurichten und von politischer Verfolgung abzusehen. Nachdem die USA mit ihrer jährlichen Geldspritze von 1,3 Milliarden US-Dollar das ägyptische Militär mehr oder weniger gekauft haben, wäre es hübsch, sie würden sich um die Demokratisierung der größten arabischen Armee mal kümmern. Wenigstens ein klitzekleines bisschen. Bislang war das kein Anliegen. Jetzt aber will Obama die Militärhilfe einer Revision unterziehen. Ob er und seine Administration das ernst meinen?
Doch man muss auch zugeben, dass die USA sehr beschäftigt sind. Zum Beispiel: Von jedem Brief oder Paket, das von der staatlichen Post USPS durch die Lande geschickt wird, fotografieren sie Adresse und Absender, damit das FBI die Daten registrieren kann. 160 Milliarden Briefe wurden erfasst, berichtet die New York Times. Eine Frau, die vergiftetes Briefgut an Obama und den New Yorker Bürgermeister Bloomberg versandt haben soll, ist auch schon gefunden worden.
Und dann die EU. Nur weil ihre Vertreter abgehört und ausspioniert wurden, ziert sie sich bei dem geplanten Freihandelsabkommen. Merkel allerdings griff bereits zum Telefonhörer und fand heraus, dass sie und Obama dem Abkommen nach wie vor Vorrang einräumten. Wirtschaftsspionage und Überwachung gehören schließlich zum Geschäft, aber nein, manche sehen das anders, und jetzt müssen die USA auch noch Herrn Snowden fangen. Die Aushöhlung von demokratischen Rechten seit 9/11 ist wirklich kein Spaziergang. Der Whistleblower selbst sucht fiebrig in der ganzen Welt um Asyl nach, auch die Deutschen wollten ihn nicht, die müssen erst noch verkraften, dass ihre Geheimdienste schon wieder völlig falsch lagen – als ob der NSU-Fall nicht schon blöd genug für sie wäre.
Bislang gingen unsere Spitzel davon aus, dass nur Chinesen und Russen deutsche Unternehmen ausspionierten, aber ganz bestimmt nicht die westlichen Geheimdienste. Das sind ja unsere Freunde. Dass dem nicht so ist, musste ihnen erst ein Edward Snowden beibringen. Wann wird das Fach „Vorsicht vor nationalen Klischees“ in die Ausbildung der Geheimdienstler aufgenommen? Es würde Deutschland Milliarden an Verlusten – und auch einige Tote – ersparen.
Aber seien wir nicht ungerecht. In ihrer tollpatschigen Provinzialität repräsentieren sie uns schon ganz gut. Wer im lethargischen Deutschland mag sich schon damit beschäftigen, was in der Welt passiert? Oder erst vor der eigenen Nase? Aufstand gegen unsere Feindbilder, ein bisschen Pioniergeist oder Abenteuerlust? Auf keinen Fall. Frank Schirrmacher spricht von „alteuropäischer Müdigkeit“ (altdeutsche träfe es besser) und meint zwar die laue Reaktion der Europäer auf die amerikanische Ausspähung, aber die hiesige Verschlafenheit beschränkt sich nicht auf diesen Bereich.
Wobei, vielleicht gibt es Hoffnung. Unser Außenminister, das kleine Licht, sagte mit Blick auf Ägypten, dass „wir“ nun die „Entwicklungen genauestens beobachten und auch[!] davon unsere eigenen politischen Entscheidungen und Konsequenzen“ abhängig machen würden.
INES KAPPERT
ROBERT MISIK