TANIA MARTINI LEUCHTEN DER MENSCHHEIT
: Die blöde Bauernidylle

Es ist ein Drama, wie die Begriffe von einem plappernden Alltagsverstand wie beispielsweise dem Guido Westerwelles beschnitten und banalisiert werden. Zum Beispiel die Dekadenz. Es ist ein schöner, durchaus tauglicher Begriff, um die Philosophiegeschichte hier ein klein wenig neu aufzurollen.

Nietzsche etwa, dessen Antichrist der elitäre Gegner einer bloß versklavten Dekadenz ist, fand überall, wo in irgendeiner Form der Wille zur Macht niedergehe, jedes Mal auch eine décadence. Für Georg Lukacs gab es Dekadenz nur mit dem Attribut bürgerlich, wie überhaupt in der marxistischen Theoriebildung meist die Gleichung Kapitalismus gleich Dekadenz galt. Alldem gegenüber gab Adorno dem Begriff seine Ambivalenz zurück. In dem Essay „Erpresste Versöhnung“ (Adorno, Schriften, Bd. 11, Suhrkamp 2009), in dem er mit dem Lukacs’schen Unverständnis von Moderne und Avantgarde abrechnet, schrieb er, ein Zitat von Marx aufgreifend: Wo immer gegen Dekadenz gewettert werde, wiederhole sich die Flucht in die angebliche Natur, in die blöde Bauernidylle.

Mit Nietzsche, Marx und Adorno gesprochen, besteht nun die blöde Bauernidylle des Guido W. in dem Willen, die Menschen immer weiter in die neoliberale Konkurrenz zueinander zu treiben, sie am besten noch mit einem Willen zur Denunziation auszustatten, demgegenüber jede tatsächliche ländliche Idylle wie das Paradies wirkt. Ihn mit solchen Namen zusammenzubringen ist wie mit Kanonen auf Spatzen schießen. Aber es geht ja nicht um die private Moral des Guido W., sondern um das, was er repräsentiert und forciert. Und damit geht es um nicht mehr und nicht weniger als um ein ganzes Dispositiv. Oder, um es anders zu sagen: um das neoliberale Projekt. Das Gehadere, Gezappele, Gesagte und Ungesagte nämlich, das wir gerade rund um den Dekadenzvorwurf erlebten, ist eingeschrieben in etwas, das noch weit über das Lächerliche eines Guido W. hinausweist: in die Restrukturierungsversuche des neoliberalen Dispositivs nach der Krise.

Tania Martini ist Kulturredakteurin dieser Zeitung Foto: privat