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Archiv-Artikel

Die Solidarität im Ausnahmezustand

WELTUNTERGANG Plötzlich ist der Mond raus aus seiner Umlaufbahn: Die US-amerikanische Autorin Susan Beth Pfeffer spielt konsequent eine Katastrophe durch – „Die Welt, wie wir sie kannten“

Haiti 2010, Thailand 2004. Und zwischen Erdbeben und Tsunami die vielen „kleineren“ Schreckensmeldungen, die fast jeden Abend via Nachrichten in die gute Stube spülen: Dürren, Brände, Kriege, Hungersnöte. Wir haben uns daran gewöhnt? Nein, nicht wirklich. Aber man lernt, mit einem Grundrauschen an Katastrophenmeldungen zu leben. Nicht unbedingt aus Herz-, eher aus Hilflosigkeit. Nachrichtengucken lernen heißt auch verdrängen lernen. Kinder brauchen in der Regel einige Jahre, bis sie ihre Fähigkeit zur Distanzierung ausreichend trainiert haben. Sie versinken noch schnell in Katastrophenfantasien, in denen Tsunamis friesische Deiche wegspülen und ein Erdbeben die Stadt trifft, in der sie leben.

Hier setzt „Die Welt, wie wir sie kannten“ an. Miranda ist so etwas wie der amerikanische Teenager-Durchschnitt schlechthin: Sie schwärmt für einen Sportstar, träumt von ihrem ersten Date, hasst Mathe, zickt mit ihrer Mutter rum, lebt in der Provinz. Ein sympathisches Mädchen ohne außergewöhnliche Züge, das sich das angekündigte Himmelsschauspiel genauso wenig entgehen lassen will wie die Mehrzahl der Amerikaner. Ein Asteroid soll auf den Mond prallen. Am Abend ist Volksfeststimmung wie bei einer Sonnenfinsternis. Doch plötzlich ist der Mond raus aus seiner Umlaufbahn und bringt Gezeiten und Klima durcheinander.

Mirandas Tagebuch

Es folgt ein Katastrophenszenario, wie Miranda es bisher nur aus den Nachrichten über ferne Länder kannte: Flutwellen, Erdbeben, Vulkanausbrüche in ganz Amerika. Erst bleibt der Strom weg, dann gibt es keine Telefonverbindungen mehr, kein Internet, keinen Handyempfang. Die Generation Chatroom ist lahmgelegt. Das batteriebetriebene Radio meldet hunderttausende Tote in allen Teilen des Landes. Dann bricht auch die restliche Infrastruktur zusammen: keine Nachrichten, keine Post, keine Warenlieferungen. Die Leute stürmen die Supermärkte für Hamsterkäufe, unter ihnen auch Miranda und ihre Familie. Sie kaufen, was sie an Haltbarem und Wärmendem kriegen können: Konserven, Trockenpulver, Schokolade, Klopapier, Handschuhe, Decken. Und über allem hängt der Mond riesig und nah.

Miranda und ihre Familie richten sich für die Katastrophe ein. Noch halten sie das Ganze für einen Ausnahmezustand. Bald wird es ihr Alltag sein. Sie rationieren ihr Essen, waschen ihre Wäsche wieder mit der Hand, fahren mit dem Fahrrad statt mit dem Auto in die Stadt, hacken Holz für den Winter. Doch dies ist kein Ökomärchen, die Situation spitzt sich immer weiter zu. Menschen hungern, Krankheiten brechen aus, schon im August kommt der erste Frost.

Mirandas Tagebuch erzählt von der Mühsal des Immergleichen im Außergewöhnlichen, vom Banalen der Katastrophe. Die Familie ist das Versuchslabor, in dem die Solidarität einem Härtetest unterzogen wird. Denn die Lage wird immer noch schlechter. Banden plündern die Stadt. Die Temperaturen fallen weiter. Bald werden die Vorräte verbraucht sein. Wenn Miranda und ihre Mutter nichts mehr essen, kann der kleine Bruder dann vielleicht etwas länger leben. Aber wer entscheidet, wer noch eine Chance bekommt und wer nicht?

Mit solchen Extremsituationen und -fragen stößt das Buch an seine Grenzen. Wer an den Hunger denkt, wie ihn zum Beispiel Herta Müller beschrieben hat, dem kommt Mirandas Schilderung naiv vor. Andererseits fragt man sich, wie viel Schmerz, Gewalt und Tod ein Jugendbuch verträgt. Pfeffer lässt Mirandas Freundin und den Freund der Mutter sterben.

Aber es gibt keine Toten innerhalb der Kernfamilie, und auch die Konflikte zwischen Miranda, ihrer Mutter und ihren Brüdern halten sich in Grenzen. Nicht der Einzelne ist der Held, sondern das Sozialsystem Familie. Solange die Familie nach innen solidarisch ist, darf sie nach außen eigennützig handeln. In der Not gibt es keine Hilfe für Fremde.

Bei aller Härte hört Miranda nicht auf, ein Teenager mit all seinen Schwärmereien zu sein. Pfeffer hat darauf verzichtet, ihre Heldin als Superheldin zu inszenieren. Sie hat es geschafft, ein Katastrophenbuch ohne erlösende Allmachtsfantasien zu schreiben. ANGELIKA OHLAND

Susan Beth Pfeffer: „Die Welt, wie wir sie kannten“. Aus dem Englischen von Annette von der Weppen. Carlsen Verlag, Hamburg 2010, 410 Seiten, 17,90 Euro