: Weiß auf weiß unsichtbar
Mit „Residua“ geben die Sophiensäle ein wunderbares Schauspielfest zu Ehren des späten Samuel Beckett
Das schräge Kind mit dem beigefarbenen Strickkleid ist eindeutig aus der Zeit gefallen. Die Hüfte weit vorgeschoben, schreitet es konzentriert auf einem Holzsteg hin und her: Von rechts nach links, neun Schritte, dann machen die hellblau bestrumpften Füße eine energische Wendung, laufen zurück, neun Schritte – mindestens zwanzigmal.
Man ahnt, dass es schon seit Jahrhunderten so gehen könnte, als das Kind endlich inne hält. „Mutter“, sagt es, steht jetzt im Scheinwerferlicht – und plötzlich kristallisiert sich aus der zeitlosen Erscheinung das schöne Charaktergesicht der Schauspielerin Judith Engel heraus. „Ja, May“, antwortet eine Stimme aus zwei riesigen Lautsprechern. „Wie alt bin ich nun?“, fragt das Kind in den weiten, dunklen Kunstbühnenraum hinein, den Till Exit gestaltet hat. „In den Vierzigern“, sagt die dunkle Stimme der Schauspielerin Swetlana Schönfeld. „Erst?“, fragt das verschrobene Kind gleichmütig zurück – und beginnt wieder zu laufen.
Judith Engel ist, einmal mehr, ein Ereignis! Da ist jeder Ton minuziös ausbalanciert, jeder Schritt eine eigene Minimal-Choreografie. Dem Regisseur Oliver Sturm ist in den Sophiensälen das seltene Kunststück gelungen, intellektuelles Experimentaltheater Spät-Beckett’scher Couleur als Schauspielerfest zu zeigen. Unter dem Motto „Residua“ konfrontiert er mit „Bing und Losigkeit“ zwei Texte, die bis dato noch nie auf dem Theater zu sehen waren, mit ebenjenem von Engel so großartig durchschrittenen Einakter „Tritte“.
Sturms gelungene Verbindung von Theorie und Sinnlichkeit ist gar nicht hoch genug zu würdigen, wenn man sich die „Residua“-Texte vergegenwärtigt: Jene Sprachexperimente aus der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre, die – anders als noch ein „Godot“ oder ein „Krapp“ – jegliches nachvollziehbare äußere Referenzsystem weitgehend hinter sich gelassen haben. Mit einer ans Kompositionsprinzip der minimal music erinnernden Permutations- und Variationsmethodik wirft sich Beckett hier gewissermaßen auf die letzten Dinge, die „Rückstände“ – auf das, was übrig bleibt; sowohl von größeren Texteinheiten im Allgemeinen als auch vom eigenen Werk im Speziellen. Das klingt dann etwa so: „Nackter weißer Leib starr ein Meter hop starr woanders weiß auf weiß unsichtbar Herz Atem ohne Laut.“
Natürlich haben auch Sturm und sein Bühnenbildner reichhaltige Fährten für Beckett-Doktoranden ausgelegt. So sieht sich der wunderbare Schauspieler Graham F. Valentine, der zu jenen Zeilen aus „Bing“ ein verblüffend facettenreiches Ton- und Mimikrepertoire aus sich herausholt, mit einer zeitversetzten Videoaufnahme seiner selbst konfrontiert. Und sein Kollege Traugott Buhre, der dem Publikum mit „Losigkeit“ ein umwerfendes Finale beschert, bekommt seine eigenen Worte gern noch einmal als Echo aus dem Lautsprecher zu hören: Alles wunderbare Anknüpfungspunkte für Subjekt- und Objekt-, Produktions- und Rezeptions-, Zeit- und Zeitlichkeitstheorien.
Das Schöne aber ist, dass es keiner Promotion bedarf, um diesen anschließend durch die koproduzierenden Städte Tel Aviv und Krakau reisenden Abend zum 100. Beckett-Geburtstag zu genießen. Hatten einen schon Valentine und Engel umgehauen, so ist am Ende die Begeisterung für Buhre noch größer: Auf Krücken steht der stattliche, betagte Schauspieler in diesem fast leeren Raum und spricht „Graues Gesicht zwei blassblau kleiner Körper Herz schlägt einsam aufrecht“ mit einer Stimme, die alles Düstere von den „Resten“ zu wissen scheint. Gleichzeitig scheint er sich zu einer unglaublichen Leichtigkeit, Versöhnlichkeit, ja Zärtlichkeit gegenüber dem Dasein und seiner Trostlosigkeit vorgelebt zu haben. Wenn man Buhre in „Residua“ erlebt, weiß man plötzlich, dass die letzten Dinge ganz wunderbar sein können. CHRISTINE WAHL
Sophiensäle, 22.–26. 2., 20 Uhr