: Wir sind auch Deutschland
Die aktuelle Integrationsdebatte lenkt vom ernsten Demokratiedefizit hierzulande ab. Was wir deshalb brauchen, ist eine neue Bewegung für die Bürgerrechte der Migranten
Würde sich Aliona Savchenko über einen schwulen Sohn freuen? Würde Andrej Klimovets eine Frau als Trainerin akzeptieren? Würde Kevin Kuranyi mehr Tore schießen, wenn er nur über einen deutschen Pass verfügen dürfte? Wir werden es nie erfahren. Denn für Privilegierte gibt es die Einbürgerung auf dem Silbertablett, und ohne die oft zitierten Gesinnungsfragen aus Baden-Württemberg. Die Eiskunstläuferin aus der Ukraine wurde nach nicht einmal drei Jahren Aufenthalt in Deutschland eingebürgert, damit sie für die Bundesrepublik an der Winterolympiade teilnehmen kann. Klimovets wurde kurz vor der Handball-EM eingebürgert, obwohl er schon oft das Trikot der weißrussischen Nationalmannschaft trug. Und niemand zweifelt an Kevin Kuranyis Loyalität, weil er nicht nur eine, sondern gleich drei Staatsbürgerschaften besitzt.
Was soll also die Debatte über neue Hürden bei der Einbürgerung? Sie verschleiert vor allem das Demokratiedefizit in Deutschland. Wir haben uns an eine absurde und undemokratische Situation gewöhnt: Heute leben etwa anderthalb Millionen Menschen in Deutschland, die hier geboren wurden, aber nicht die vollen Bürgerrechte besitzen. Jeder dritte Einwanderer lebt seit über zwanzig Jahren in der Bundesrepublik – also länger als 17 Millionen Ostdeutsche. Der Unterschied ist: Die neuen Mitbürger aus den neuen Ländern dürfen seit der Wiedervereinigung wählen. Die meisten der alten zugewanderten Mitbürger aus den alten Ländern nicht.
Dass ganze Generationen in Deutschland leben, ohne hier jemals gewählt zu haben – das ist ein Skandal. Dabei finanzieren auch „sie“ mit ihren Steuern die Gehälter der Politiker und die Haushalte der deutschen Parlamente. Die Grundidee der Demokratie ist, dass alle Mitglieder einer Gesellschaft dieselben und vollen Rechte besitzen. Und zwar dort, wo sie leben. Genau aus diesem Grund stehen aber auch „ihnen“ demokratische Rechte in Deutschland zu. Doch statt sich solchen Fragen zu widmen, hat in der gegenwärtigen Debatte mal wieder die „Kultur“ Konjunktur. Nun haben auch der sexuelle Missbrauch von Kindern oder rechtsradikale Gewalttaten durch deutsche Männer mit einer Kultur des Wegsehens und patriarchalen Denkmustern zu tun. Niemand aber käme auf die Idee, deswegen pauschal die Bürgerrechte deutscher Machos in Frage zu stellen.
Ebenso absurd ist es, Probleme wie Zwangsheirat oder Islamismus durch die Verwehrung demokratischer Rechte bekämpfen zu wollen. Durch die aktuelle Debatte wird eher davon abgelenkt, dass Bürgerrechte – und um deren Erwerb geht es bei der Einbürgerung – kollektive Rechte sind. Und kein Privileg, mit dem die besonders Angepassten belohnt werden sollen.
Die derzeit populäre Islamkritik bot für das Stuttgarter Innenministerium den Anlass, seinen neuen Einbürgerungsfragebogen zu lancieren. Den würden die CDU-Innenminister am liebsten bundesweit einführen. Ursprünglich war er nur für Muslime gedacht. Doch weil dies zu diskriminierend war, geschehe die Überprüfung der „inneren Einstellung“ jetzt „selbstverständlich auch bei Nichtmuslimen“. Und wenn es nach dem Willen des bayerischen Innenministers Günther Beckstein geht, sollen Einbürgerungswillige demnächst auch nach ihren Sympathien für die Linkspartei oder das Münchner Bündnis gegen Rassismus befragt werden.
Kein Wunder, dass solche Ideen aus dem Süden der Republik kommen. Gerade Bayern und Baden-Württemberg haben bis vor kurzem auch EU-Migranten die generelle doppelte Staatsbürgerschaft verweigert. Erst die Klage eines Griechen aus Nürnberg vor dem Bundesverwaltungsgericht zwang sie in die Knie. Seit 2002 dürfen nämlich fast alle EU-BürgerInnen zwei Pässe besitzen. Deutschtürken, Deutschserben oder Russlanddeutsche dürfen das aber nicht. Die Devise „Privilegien für einige“ statt „gleiches Recht für alle“ zeigt sich auch beim Umgang mit dem Doppelpass.
Es geht nicht um Integration. Es geht um Demokratie in Zeiten der Globalisierung. Dafür muss man etwas tun. Man könnte den MigrantInnen bislang eher den Vorwurf machen, dass sie in der öffentlichen Diskussion viel zu zaghaft auftreten. Schließlich war es früher auch absolut normal, dass Frauen nicht zum politischen Kollektiv gehörten. Das Frauenwahlrecht fand bekanntlich erst durch den Einsatz von Frauenrechtlerinnen seinen Eingang in die Weimarer Verfassung von 1918. Doch ein Anfang ist gemacht: Ein Türke hat sich im Oktober vor dem Bundesverwaltungsgericht seine Einbürgerung erstritten, die ihm verweigert wurde, weil er nicht auf Deutsch schreiben konnte.
Selbst innerhalb der Union verlaufen die Fronten nicht mehr eindeutig. Der nordrhein-westfälische CDU-Integrationsminister Armin Laschet will den Gesprächsleitfaden schon deshalb nicht, weil es seiner Meinung nach viel zu wenig Einbürgerungen gibt. Die Einbürgerungszahlen liegen in Deutschland heute so niedrig wie 1999. Nur im Jahr 2000 schnellten sie auf 180.000 hoch, als mit dem Inkrafttreten der rot-grünen Gesetzesnovelle für kurze Zeit eine offenere Stimmung herrschte.
Was wir brauchen, sind deshalb keine neuen Staatsbürgerkurse als Voraussetzung zur Einbürgerung. Angebote, wie etwa Sprachkurse für die Migranten, die sie brauchen, sind willkommen – aber da gibt es im Moment eher mehr Nachfrage als Kurse. Was wir brauchen, ist eine neue Bürgerrechtsbewegung. Ihr Ziel könnte eine Art Stichtagsregelung sein: Wer eine bestimmte Anzahl von Jahren in Deutschland lebt oder hier geboren wurde, erhält automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft. Schließlich gibt es die automatische Einbürgerung schon bei Spätaussiedlern. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel wird sich sicher noch erinnern, dass sie den BRD-Pass ebenfalls ohne Test erhalten hat. Und selbst die meisten neugeborenen Kinder von Einwanderern werden heutzutage automatisch Deutsche.
Die CDU beabsichtigt dagegen eine Einschränkung der Bürgerrechte: Wer beim Gesinnungstest gelogen hat, dem soll der deutsche Pass jederzeit wieder entzogen werden können. Doch wenn man in Zukunft ohnehin nur noch Stand-by-Deutscher werden darf, ist es kein Wunder, dass viele MigrantInnen kein ausgeprägtes Interesse an einer Einbürgerung entwickeln.
Daher sollten wir auch über mobile Bürgerrechte nachdenken. Die aufkeimende Idee einer EU-Bürgerschaft könnte dabei als Vorbild dienen. Schon heute ist es für BürgerInnen der Europäischen Union bei Kommunal- und Europawahlen nämlich ausschlaggebend, wo sie wohnen, und nicht, woher sie kommen. Wenn sie in Deutschland leben, wählen sie hier ihre Kandidaten für das Europaparlament, und bei Kommunalwahlen stimmen sie an ihrem Wohnort mit. Warum sollte das Gleiche nicht auch für die Bundestagswahl gelten und sich dieses Aufenthalts- und Wahlrecht nicht auf BürgerInnen aus Nicht-EU-Staaten erstrecken? Die leben nämlich oft genauso lange in derselben Nachbarschaft.
MILTIADIS OULIOS