: „Bildung im Theater nicht zu Hause“
■ Jahrgang 1959, ist seit 2003 künstlerischer Leiter und Geschäftsführer des Berliner Theaters Hebbel am Ufer. Zuvor war er sieben Jahre lang Chefdramaturg an der Berliner Volksbühne bei Frank Castorf.
taz: Herr Lilienthal, ist das Theater der Stachel im Fleisch des kapitalisierten Zeitgeistes?
Matthias Lilienthal: Ich distanziere mich von klaren Feindbildern, das ist total beschränkt, wir verändern im Theater doch nicht das Leben der Republik. Wir sind vielleicht ein schlechter trauriger Clown in einer kleinen Nische. Es gibt heute eine völlige Unübersichtlichkeit dieser beschleunigten Gesellschaft und es geht darum, für Momente kleine Inseln des Überblicks herzustellen. Diese postmoderne Welterfahrung hat zur Folge, dass ich einfach ein Problem damit habe, zu sagen was richtig und was falsch ist.
Aber ist nicht die Kunst durch ihre Autonomie, ihre Zwecklosigkeit der einzige Raum, wo sich Bildung im humanistischen Sinne heute noch realisieren lässt?
Ich glaub ja an die Freiheit der Kunst nur bedingt. Wir haben eine klare Zweckorientierung und die schlägt sich jeden Abend beim Publikum und an der Kasse nieder. Das Theater ist immer schon zu aller erst Unterhaltung, sicherlich mit Kunstcharakter, und alle Jubeljahre gibt‘s dann vielleicht mal nen Funken ästhetische Bildung. Ästhetische Bildung klingt mir ansonsten sehr nach den Schillerschen Briefen. Wie sich in der heutigen Welt, zwischen Lehmann Brothers und Griechenland-Pleite, Bildung mit einem solchen Furor vertreten lässt, das irritiert mich. Der Kunst wohnt, wenn sie gut ist, eine Rätselhaftigkeit inne, die den Kopf frei macht.
Verfolgen sie mit ihren Experimenten kein Ideal mehr?
Es geht schon um die Frage, wie erfindet man die Linke innerhalb des Neoliberalismus neu. Theater ist auch ein Einspruchsorgan, in dem man versucht gesellschaftliche Debatten zu führen, also was ist Arbeit, oder was ist Kapitalismus. Aber als Laboratorium, zur Erprobung urbaner Lebensformen jenseits der Verwertungslogik, wo der Ausgang des Experiments offen ist.
Das hört sich nach Warten auf Godot an?
Nein, was wir machen, ist: Mit künstlerischen Versuchen immer wieder auf die Änderung von Lebensumständen zu reagieren und da ne Bewusstheit oder ne Verspieltheit oder ne Psychose entgegen zu setzen. Aber Gegenöffentlichkeit durch Kultur zu organisieren bleibt ein Kampf gegen Windmühlen.
Sie weisen also den kollektiven Klassenkampf der 70er von sich und wollen vielmehr den einzelnen auf seinem individuellen Weg unterstützen?
Ja. Jede künstlerische Strategie ist anders. INTERVIEW: ANDREAS WIEBEL