piwik no script img

Archiv-Artikel

„Dieser Moment am Lebensende“

TRANSPLANTATIONEN Der spanische Organspende-Experte Rafael Matesanz wundert sich über die Deutschen

Rafael Matesanz

■ Jahrgang 1949, ist Direktor der spanischen Nationalen Transplantationsorganisation (ONT), die dem Gesundheitsministerium in Madrid untersteht. Sie ist zuständig für Organspende, Organentnahme, Organvergabe, Transplantation, Zell- und Gewebespende. Rafael Matesanz ist Facharzt für Nierenkunde und berät Organspende-Experten weltweit zu Fragen der Organisation und Abläufe. Mit 35,3 Organspendern pro 1 Million Einwohner ist Spanien innerhalb der EU Spitzenreiter (zum Vergleich: Deutschland hat 14,7 Spender pro 1 Million Einwohner).

INTERVIEW HEIKE HAARHOFF

taz: Herr Matesanz, ein Jahr nach Auffliegen des Transplantationsskandals an deutschen Universitätskliniken hat die Zahl der Organspender hierzulande einen historischen Tiefstand erreicht. Die Regierung wirbt nun um Vertrauen – mit Informationsbroschüren. Als Direktor der Organización Nacional de Trasplantes haben Sie in Spanien die höchsten Organspendezahlen in der EU erzielt. Wie erfolgreich sind Kampagnen?

Rafael Matesanz: Ich halte es für eine völlig ungeeignete Strategie, Geld in Kampagnen zu stecken, wenn das Ziel sein soll, die Organspende zu steigern. Es ist sehr schwer, die Mentalität von Menschen zu ändern. Und es ist geradezu unmöglich, dies über die öffentliche Verbreitung von Botschaften zu tun. Niemand ändert seine Meinung zur Organspende durch einen Fernsehspots! In Deutschland kommt aktuell hinzu, dass die Menschen aufgrund der Skandale eine sehr negative Einstellung haben. Das umzukehren ist schwierig.

Aber ist eine positive Haltung nicht Voraussetzung dafür, dass die Spenden wieder steigen?

Ach was! Schauen Sie nach Spanien: Bei uns liegt die Zahl derjenigen, die in Umfragen spontan Ja zur Organspende sagen, seit 20 Jahren konstant bei etwa 56 Prozent. Im gleichen Zeitraum aber haben wir die Organspende um ein Vielfaches gesteigert. Tatsächlich lehnen heute nur 15 Prozent der Angehörigen die Spende ab, nachdem wir das Gespräch mit ihnen geführt haben. Es ist unerheblich, wie viele Menschen einen Ausweis tragen oder sich theoretisch zur Organspende bekennen. Was zählt, ist die Zahl der tatsächlichen Spender.

Wie haben Sie erreicht, dass Spanien EU-Spitzenreiter ist?

Es ist ausschließlich eine Frage der Organisation in den Krankenhäusern. Wir haben die Überzeugungen der Menschen Überzeugungen sein lassen und stattdessen unsere Kräfte konzentriert auf diesen einen Moment am Lebensende, wenn es darum geht, ob Organe gespendet werden dürfen. Seit 1989 haben wir mehr als 15.000 Intensivmediziner, Krankenpfleger, Notfallärzte, Transplantationsbeauftragte geschult – in Gesprächsführung mit den Angehörigen, aber auch darin, potenzielle Spender überhaupt zu entdecken.

Die Ärzte erkennen das nicht?

Die meisten Spender verlieren wir deswegen, weil sie die Intensivstation gar nicht erreichen. Die Weichen hierfür werden schon in der Notaufnahme gestellt: Nur wer auf der Intensivstation landet, kann Organspender werden, denn nur hier verfügen wir über die nötigen medizinischen Geräte. Deswegen ist unser Ziel, in jeder Notaufnahme eine Person zu haben, die nur dafür zuständig ist, potenzielle Spender zu entdecken.

In Deutschland legen viele Menschen per Patientenverfügung fest, dass sie, wenn die Wahrscheinlichkeit, ins Leben zurückzukehren, gegen null geht, dass sie statt Intensivmedizin Therapielimitierung möchten. Ist dieser Wille zu respektieren?

Selbstverständlich. Organspende spiegelt nichts anderes wider als den Umgang einer Gesellschaft mit dem Lebensende. Und da muss man feststellen, dass die kulturelle Einstellung zum Tod in katholischen Ländern eine komplett andere ist als in den protestantisch geprägten Ländern in Nordeuropa.

Inwiefern?

Bei uns sagt man, dass es, solange es Leben gibt, auch Hoffnung gibt. Also werden unsere Ärzte ihr Bestmögliches geben, das Leben zu erhalten. Die nordeuropäischen Ärzte dagegen wägen ab: Wie stehen die Überlebenschancen? Davon machen sie Therapieentscheidungen abhängig. Und so erklären sich die Unterschiede bei der Organspende: Die Zahl der Hirntoten in Spanien ist ja nicht etwa deswegen so viel höher als in Deutschland, weil die Sterblichkeitsrate eine andere wäre. Nein, es liegt daran, dass bei uns mehr Menschen auf die Intensivstation kommen. Nicht zum Zweck der Organspende, sondern um Leben zu retten.

Das Gros der nordeuropäischen Ärzte will auch nur das Beste für die Patienten.

Das bestreite ich nicht. Es geht um unterschiedliche Philosophien am Lebensende. In Deutschland kommt hinzu, dass es eine gesellschaftliche Übereinkunft gibt, dass der Arzt sich neutral verhalten soll, wenn er die Angehörigen fragt, ob dem Toten Organe entnommen werden dürfen oder nicht.

Klar. Was denn sonst?

Wir führen das Gespräch proaktiv, das heißt, wir erklären der Familie, dass dieser Mensch tot ist und dass es unser oberstes Gebot ist, den Willen des Patienten zu respektieren. Dann aber ist die Aufgabe des Koordinators, die Familie von den Vorzügen der Organspende zu überzeugen.

Das ist Einflussnahme!

Nein, das hat mit Druckausüben nichts zu tun. Wenn die Familie nein sagt, heißt das auch in Spanien nein. Niemand würde sich über den Willen von Patienten oder Angehörigen hinwegsetzen. Ich glaube, dass in Deutschland viele das Problem nicht verstanden haben: aufgrund des Organmangels sterben Menschen!

Herr Matesanz, gibt es ein Recht auf die Organe eines anderen?

Nein, dieses Recht gibt es selbstverständlich nicht. Aber wir sind der Meinung, dass jeder, der ein Organ braucht, auch die bestmöglichen Chancen haben sollte, eins zu bekommen.

Und diese Chancen steigern Sie, indem Sie nicht nur die Organspende nach dem Hirntod erlauben, sondern auch nach dem Herzstillstand? In Deutschland wäre das ein Tabubruch.

Klar, Sie haben das ja sogar gesetzlich verboten!

Das amüsiert Sie?

Es ist mir ein Rätsel, weshalb in Deutschland verboten ist, was Ihre Nachbarn für legal und bioethisch vertretbar halten.

Die Mehrheit der Deutschen findet es eben nicht okay, Menschen zu einem Zeitpunkt Organe zu entnehmen, zu dem sie möglicherweise noch reanimiert werden könnten.

Schön, dann ist das so. Aber Deutschland ist zugleich Mitglied im Eurotransplant-Verbund. Eurotransplant verteilt die Organe aus acht Ländern, auch aus den Niederlanden, wo etwa die Hälfte der Organspenden – nach dortigem Gesetz legal – über den Herzstillstand zustande kommt. Diese Organe aber darf Eurotransplant in Deutschland nicht zur Transplantation anbieten! Für deutsche Patienten ist das ein Nachteil.

Wie sähe eine gerechtere Organverteilung aus?

In Deutschland sagt man, dass jeder Bürger die gleichen Chancen auf ein Organ haben sollte. Das halte ich für Unsinn. Diese Politik führt dazu, dass Organe quer durch die Republik transportiert werden, was nicht nur Geld kostet, sondern auch dazu führt, dass viele Organe verloren gehen. Es macht einen qualitativen Unterschied, ob eine Niere nach zwei oder nach zehn Stunden verpflanzt wird. Wir in Spanien haben die Regelung, dass Notfallpatienten immer Vorrang haben, unabhängig von ihrem Aufenthaltsort. Aber bei den anderen Patienten auf der Warteliste haben diejenigen Priorität, die in der Region leben, in der auch die Organe gespendet wurden.

Warum die Debatte?

■ In Deutschland erschütterte eine Serie von Organspende-Skandalen vor einem Jahr das Vertrauen der Öffentlichkeit in Ärzte und Kliniken, die für die Verteilung dringend benötigter Nieren, Lebern und anderer Organe an Schwerstkranke zuständig sind. Wie sich herausstellte, hatten Mediziner an mehreren Orten Krankheitsdaten ihrer Patienten gefälscht, damit sie schneller für die in vielen Fällen lebensrettende Operation ausgewählt wurden.

■ Rund 12.000 Menschen warten derzeit nach Angaben der Deutschen Stiftung für Organtransplantation in Deutschland auf ein neues Organ. Doch die Bereitschaft, sich als Spender zu melden, ist inzwischen stark gesunken. Zugleich ist eine Debatte über ethische, fachliche und technische Bedingungen für eine bessere Versorgung entbrannt.

■ Experten wie der Spanier Rafael Matesanz raten unter anderem dazu, die Organverteilung staatlich stärker zu kontrollieren und die Transplantationen auf weniger Kliniken zu konzentrieren.

Was bitte ist daran gerecht?

Es ist billiger. Effektiver. Und es gibt den Regionen einen Anreiz, sich bei der Organspende anzustrengen.

Eine Klinik, die viele Spender akquiriert, darf ihre Transplantationszahlen steigern und erhält zudem mehr Geld?

Transplantationsbeauftragte an spanischen Kliniken erhalten natürlich keine Kopfprämie. Aber sie erhalten ein zusätzliches Gehalt, dessen Höhe von der Größe des Krankenhauses und der Gesamtzahl der Spender abhängt. Dieses System funktioniert auch deswegen so gut, weil unsere Organisation sehr straff ist. In Spanien dürfen lediglich 185 Krankenhäuser Organspenden durchführen – bei 47 Millionen Einwohnern. In Deutschland dagegen sind 1.200 Häuser dazu berechtigt – bei einer Bevölkerung von 80 Millionen. Das Problem des deutschen Gesundheitswesens ist nicht seine Versorgungsqualität, sondern seine Zersplitterung. Es reden zu viele mit, der Bund, die Länder, die Kommunen. Und dieses Problem der vielen Zuständigkeiten setzt sich fort bei der Kontrolle, wenn es darum geht, Regelverstößen einzelner Akteure nachzugehen.

Wieso?

Da ist die Deutsche Stiftung Organtransplantation, eine private Stiftung, zuständig für die Organspende. Dann Eurotransplant, eine private Stiftung mit Sitz in den Niederlanden, zuständig für die Organvergabe, deren Regeln wiederum die Bundesärztekammer bestimmt. Die Rolle des Gesundheitsministeriums ist schwer erkennbar – falls sie denn überhaupt existiert.

Die gesetzliche Trennung zwischen der Organakquise und der Organverteilung wurde sehr bewusst gewählt, um Interessenkonflikte zu vermeiden.

Ja, aber es funktioniert nicht, das sehen Sie doch aktuell bei der Aufarbeitung Ihrer Skandale. Eurotransplant vergibt die Organe, ist aber nicht verantwortlich dafür, was in den Krankenhäusern passiert, und kann folglich weder kontrollieren noch sanktionieren. Die einzige Möglichkeit, dieses System wieder handhabbar zu machen, ist, alle Belange in die Hand einer einzigen Institution zu legen. Diese Institution muss dem Ministerium unterstehen.

Weil das in Spanien so ist?

Weil es die einzige Chance ist, Vertrauen in das System wiederherzustellen.