: „Die Demografie ändert unser Leben“
Wer kann, der sollte auch bis 67 Jahre arbeiten dürfen. Die Betriebe werden das lernen müssen – spätestens wenn die unter 50-Jährigen in der Gesellschaft die Minderheit sein werden, sagt der Altersforscher Clemens Tesch-Römer
taz: Herr Tesch-Römer, sehen Sie die Gesellschaft schon vor sich, in der alle bis zum 67. Geburtstag am Schreibtisch sitzen und an der Werkbank stehen?
Clemens Tesch-Römer: Zunächst einmal: Ich finde es grundsätzlich gut, die Möglichkeit zu haben, bis 67 zu arbeiten. Bei der Debatte um die Rente mit 67 muss aber eine Prämisse gesetzt werden: Nur wer bis 67 arbeiten kann, soll das auch dürfen. Wer aus medizinischen Gründen dazu nicht im Stande ist, muss auch abgesichert in Rente gehen können.
Angesichts dessen, was über 60-Jährige alles schon für Krankheiten haben – wird die Inanspruchnahme dieser Möglichkeit dann ein zweiter, teurer Regelfall?
Das denke ich nicht. Vor dreißig oder vierzig Jahren haben viele Menschen bis 65 gearbeitet – und das, obwohl die damals 60-Jährigen nicht so gesund waren wie die heute 60-Jährigen. Es war ja nicht die abnehmende Gesundheit, die dazu führte, dass massenweise über 55-Jährige aus dem Erwerbsleben ausschieden, sondern die Arbeitsmarktpolitik. In Großbritannien, in der Schweiz, in Schweden arbeiten viel mehr 55- bis 64-Jährige. Nur Deutschland kommt hier auf kümmerliche 42 Prozent Erwerbsbeteiligung. Die ist bei Frauen über die Jahre zwar gestiegen, bei Männern jedoch jahrzehntelang gesunken. Aber auch bei den Männern gibt es inzwischen seit einigen Jahren eine Trendwende.
Ist nicht die einzigartige Produktivität der deutschen Volkswirtschaft auch eine Folge davon, dass unproduktive Arbeitskräfte ausgegrenzt wurden?
Wir würden nicht länger leben und wären nicht so lange so gesund, wenn das deutsche Produktivitätswachstum auf dem Verschleiß der Arbeitnehmer beruhte. Die Arbeitswelt kann nicht so viel anstrengender geworden sein. Abgesehen davon ist es nicht nachweisbar, dass ältere Arbeitnehmer weniger produktiv sind.
Aber die Arbeitgeber haben doch ihre Gründe, Ältere aus dem Job zu drängen. Sie erwarten offenbar von Jüngeren mehr Leistung.
Bei den Arbeitgebern spielen verschiedene Motive eine Rolle, und die sind nicht alle gut begründet. Die Leistungsfähigkeit verändert sich bei jedem Menschen tatsächlich. Ab Mitte 30 nimmt die Verarbeitungsgeschwindigkeit ab. Das erkennt jeder Erwachsene daran, dass 14-Jährige fixer bei Computerspielen sind. Auch die körperliche Belastungsfähigkeit nimmt ab. Ältere fehlen bei der Arbeit zwar seltener, aber dann länger – die Summe ihrer Fehltage ist deshalb höher. Doch haben sorgfältige Studien ergeben, dass Ältere mit ihrem Erfahrungswissen ihre Schwächen vollständig kompensieren.
Wie das?
Ein Beispiel: Man hat Datentypistinnen verglichen. Dabei wurde einerseits gemessen, dass die jüngeren Frauen in dem Sinne schneller tippen konnten, dass sie ihre Finger schneller bewegten. Andererseits war auch messbar, dass der gesamte Arbeitsablauf – Text wahrnehmen, erfassen und tippen – von den Älteren insgesamt ebenso schnell und gut bewältigt wurde. Weil sie mehr Erfahrung mit Texterfassung als die Jüngeren hatten, konnten sie ihre motorische Schwäche kompensieren.
Glauben Sie, dass diese Kompensation in jedem Job funktioniert?
Nein. Aber die Betriebe haben noch lange nicht alles kreativ genug durchdacht, was man machen könnte. Wer etwa das Tempo am Fließband nicht halten kann, kann ebenso gut zur Wartung der Maschinen eingeteilt werden. Solche horizontalen Karrieren müssen möglich sein. Das werden die Betriebe auch lernen, wenn der demografische Wandel erst die Jüngeren zur Minderheit macht. Noch 1960 stellten die 20- bis 43-Jährigen die Mehrheit in der erwerbsfähigen Bevölkerung, 2020 werden es die über 50-Jährigen sein. Die Betriebe werden dann die Älteren brauchen.
Horizontale Karrieren dürften doch so aussehen, dass Ältere in immer unwichtigere Jobs geschoben werden. Das wird das Stress- und Frustpotenzial nicht verringern.
Der demografische Wandel wird unsere Lebensentwürfe verändern – und mit der Planung für ein längeres Erwerbsleben verbunden sein. Aber ich wehre mich dagegen, dass alles schlechter wird. Wir müssen eben mit dafür sorgen, dass wir mit 55 noch attraktiv für den Arbeitgeber sind, und die Arbeitgeber müssen mit dafür sorgen, dass wir lange gesund, qualifiziert und motiviert bleiben. Diese Überlegung, dass mit der Rente die „späte Freiheit“ kommt, ist doch häufig genug Selbstbetrug. Die soziale Integration im Erwerbsleben wird immer noch unterschätzt. Es muss Spaß machen, lange zu arbeiten, und da sind Staat, Arbeitnehmer und Arbeitgeber gemeinsam in der Pflicht.
INTERVIEW: ULRIKE WINKELMANN