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Archiv-Artikel

Haben die Streikenden Recht?

ja

Die Überzahl der Medien wettert zusammen mit Politikern gegen den Streik im öffentlichen Dienst. Bei Lichte besehen lassen sich aber gute Gründe für den Streik gegenüber den derzeit kompromisslosen Arbeitgebern im öffentlichen Dienst ableiten:

Niemand bezweifelt die tiefe fiskalische Krise der öffentlichen Haushalte angesichts der explodierenden Schulden. Jedoch, es waren doch nicht die Beschäftigten, die durch ihren Arbeitseinsatz die Haushaltsdefizite erzeugt haben. Die maßgebliche Ursache liegt in der Politik massiver Steuersenkungen in den letzten Jahren. Entgegen den damit verbundenen Versprechungen ist das Wirtschaftswachstum nicht stimuliert und sprudelnde Steuereinnahmen sind nicht ausgelöst worden. Die Unternehmen haben, wie bei der Lohnzurückhaltung, diese staatlich organisierte Kostensenkung nicht belohnt. Sollen jetzt die Beschäftigten im öffentlichen Dienst für das neoliberale Missmanagement die Zeche bezahlen? Deshalb dient der Streik auch dem Ziel, eine seriöse Finanzbasis für den Staat mit den Instrumenten der Steuerpolitik herzustellen.

Die medial inszenierte Entrüstung konzentriert sich auf die unmittelbaren Folgen des derzeitigen Streiks. Die Steuerzahler würden um ihre bezahlten Dienstleistungen betrogen. Diese Empörung ist schlichtweg kleinkariert und ärgerlich kurzsichtig.

Ziel des Streiks ist doch, die Produktionsbedingungen für eine bessere Qualität der öffentlichen Dienstleistungen dauerhaft zu verbessern. Das lässt sich am Beispiel der bestreikten Kindertagesstätte deutlich machen: Sicherlich hat die allein erziehende Mutter große Probleme, wegen des Streiks ihr Kind während ihrer Arbeit unterzubringen. Aber der Streik hat doch die wichtige Aufgabe, künftig die heute schlechten Arbeitsbedingungen zugunsten der Kinder in den Kitas zu verbessern. Dies ist auch der Grund, warum die Beschäftigten diesen Streik fordern. Er ist nicht das Kopfprodukt der Ver.di-Spitze in Berlin. Übrigens unterstützt, wie Umfragen belegen, die Mehrheit der Nachfrager nach öffentlichen Dienstleistungen dieses Streikziel.

Für die Legitimität entscheidend ist der Inhalt dieses Streiks. Dieses Mal geht es nicht um sicherlich notwendige Lohnsteigerungen für die Beschäftigten. Nein, gestreikt wird gegen die von den Arbeitgebern verlangte Verlängerung der Wochenarbeitszeit von 38,5 Prozent auf 40 Stunden. Damit bedienen die Ver.di-Mitglieder im öffentlichen Dienst nicht die ansonsten kritisierte Lohnmaschine. Vielmehr geht es um einen positiven Beitrag zur Vermeidung eines weiteren Anstiegs der Arbeitslosigkeit. Diese Prioritätensetzung müsste eigentlich breite Anerkennung finden.

Zweifellos ist es schwierig, einen Streik um die Vermeidung von 18 Minuten Mehrarbeit pro Woche zu vermitteln. Es kommt jedoch auf die gesamte Wirkung auf die Beschäftigung an. Zum einen kostet die geplante Arbeitszeitverlängerung bis zu 250.000 Arbeitsplätze. Zum anderen nimmt dadurch die Arbeitshetze im öffentlichen Dienst zu.

Denn es gehört ja auch zur Wahrheit, dass die faktisch gearbeitete Zahl von Stunden im Regelfall weit über die derzeitige tarifliche Begrenzung hinausgeht, während die Gesamtheit der Überstunden über die Zeitkonten wegen des Leistungsdrucks nicht mehr abgefeiert werden können. Die geplante Verlängerung der tariflichen Arbeitszeit erhöht also den Druck, die ohnehin schon faktisch weitaus längere Arbeitszeit zu verlängern.

Die Tatsache, dass die Tarifgemeinschaft der Länder die Tarifverträge gekündigt hat und die Kommunen derzeit ihren Vertrag brechen wollen, hat die Vertrauensbasis in das Tarifvertragssystem schwer erschüttert. Schließlich hatte der überall gelobte Tarifvertrag für den gesamten öffentlichen Dienst viele alte Zöpfe abgeschnitten.

Dieser Streik dient daher auch dem Ziel, den Arbeitgebern deutlich zu machen, dass per Willkür die Vertragsbindung nicht ausgehebelt werden darf. Das kriegerische Bild von der Schaffung einer „Waffengleichheit“ mit diesem Streik sei an dieser Stelle erlaubt. Es geht auch um die Rehabilitation des bewiesenen Gestaltungswillen der Gewerkschaften für einen einheitlichen Tarifvertrag.

RUDOLF HICKEL

nein

Der Arbeitskampf im öffentlichen Dienst ist das Ergebnis mangelnden Verhandlungswillens. Ver.di hat sich selbst gefesselt: durch die strikte Verweigerung, den Kommunen in Baden-Württemberg oder Niedersachsen die Nutzung einer tarifvertraglich vereinbarten Öffnungsklausel zu gewähren – und durch eine Klausel des Tarifvertrags, wonach jedes Arbeitszeitzugeständnis an die Länder automatisch auch den Kommunen und dem Bund eingeräumt werden muss.

Zudem hat die Tarifgemeinschaft der Länder (TdL) den Ausstand ganz bewusst in Kauf genommen, indem sie aus den gemeinsamen Verhandlungen mit dem Bund und den kommunalen Arbeitgebern ausgeschert ist, um der Gewerkschaft eine längere Arbeitszeit aufzuzwingen. Viele Länderchefs verlängerten die Arbeitszeit für Beamte per Gesetz auf bis zu 42 Stunden pro Woche, stellten neue Arbeiter und Angestellte nur noch zu verlängerten Wochenarbeitszeiten ein und gaben Ver.di klar zu erkennen: Der von Bund und Kommunen 2005 unterzeichnete Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst wird erst übernommen, wenn die Arbeitszeit verlängert wird.

Aus Sicht der Gewerkschaft gab es letztlich nicht mehr viel zu verhandeln. Um ihr Gesicht zu wahren, konnte sie nur noch mit einem Streik reagieren. Dennoch ist der Streik unsinnig, weil am Ende ein Kompromiss stehen muss, bei dem Ver.di einer längeren Arbeitszeit zustimmen muss und bei dem sich auch die TdL bewegen wird.

Die Diskussion um längere Arbeitszeiten im öffentlichen Dienst lässt sich nicht auf die Milchmädchenrechnung von Ver.di beschränken, wonach 18 Minuten Mehrarbeit pro Tag und Mitarbeiter bis zu 250.000 Jobs gefährden würden.

Denn längere Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich bieten die Chance, kulturelle Angebote, Ämter oder öffentliche Freizeiteinrichtungen wie Bäder oder Büchereien zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger auszuweiten oder länger zu öffnen. Dadurch besteht die Chance, bei nahezu konstanten Kosten die Nachfrage nach öffentlichen Angeboten zu erhöhen, was wiederum höhere Kostendeckungsbeiträge bringt. Längere Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich können dem Bürger auch dadurch zugute kommen, dass Anträge, Pässe oder die kommunale Müllabfuhr nicht oder zumindest weniger teurer werden.

Es ist nicht Aufgabe der öffentlichen Hand, für Arbeitsplätze zu sorgen. Der Fiskus hat vielmehr die Pflicht, mit Steuergeldern möglichst effizient umzugehen. Deshalb sind staatliche Monopole (Post, Telekommunikation, Bahn) in den letzten Jahren liberalisiert und privatisiert worden. Viele kommunale Dienstleistungen wie der öffentliche Personen-Nachverkehr, die Ver- und Entsorgung können ebenso gut von privaten Anbietern bereitgestellt werden. Wie die Privatwirtschaft steht inzwischen auch der öffentliche Sektor im Wettbewerb. Natürlich ist auch die Flexibilisierung der Arbeitszeit ein Schritt, um den Wünschen der Bürger nach längeren oder alternativen Öffnungszeiten von öffentlichen Einrichtungen (zum Beispiel samstags) entgegenzukommen. Mehr Flexibilität führt aber nicht zu einem größeren Arbeitsvolumen und damit auch nicht zu einem breiteren Angebot, weil Mehrarbeit durch Freizeit ausgeglichen wird. Deshalb betonen die kommunalen Arbeitgeber zu Recht, dass nur eine Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich echte Einsparpotenziale erschließe und vor dem Hintergrund der prekären öffentlichen Haushaltslage die Chance biete, das Leistungsangebot für die Bürger zu erhalten, Öffnungszeiten nicht zu verkürzen und das nötige Beratungsangebot aufrechtzuerhalten.

Am Ende des Tarifkonflikts sollte daher ein Kompromiss stehen, der dem Bund, den Ländern und den Kommunen erlaubt, die Arbeitszeit ohne Lohnausgleich auf bis zu 40 Stunden pro Woche und Mitarbeiter auszuweiten. Um Ver.di zu gewinnen, sollten die öffentlichen Arbeitgeber im Gegenzug – nach dem Vorbild der zahlreichen in der Privatwirtschaft geschlossenen betrieblichen Bündnisse für Arbeit – auf betriebsbedingte Kündigungen und auf die Auslagerung von Arbeitsprozessen auf private Unternehmen verzichten.

HAGEN LESCH

siehe auch: schlagloch SEITE 11