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Archiv-Artikel

Die Grenze der Glaubwürdigkeit

RADSPORT Die Leistungsdaten von Chris Froome bei der Tour de France ähneln denen von früheren Dopingsündern. Ein Sportwissenschaftler hält sie mindestens für „wundersam“

AUS AVRANCHES TOM MUSTROPH

Gut ist, wenn man noch einmal nachrechnet. Chris Froomes phänomenale Leistung am Aufstieg nach Ax 3 Domaines katapultierte ihn mit der drittbesten jemals von Radprofis bei der Tour de France gefahrenen Zeit nicht nur in die Performance-Kategorien der (spät) bekennenden Hochdoper. Die Leistung erweckte zunächst auch den Anschein, die Schwelle von 450 Watt geknackt zu haben, bei der nach Erkenntnis des französischen Sportwissenschaftlers Antoine Vayer die Zone der „Mutanten“ beginnt.

Vayer stand drei Jahre beim Rennstall Festina in Diensten – ebenjenem Team, dessen beschlagnahmte mobile Apotheke während der Tour 1998 zum Auslöser des gleichnamigen Skandals wurde – und lernte die Leistungsgrenzen der Fahrer aus nächster Nähe kennen. „Es war mein Laboratorium“, sagt er heute spöttisch. Aus diesen Erfahrungen, einem Studium der wissenschaftlichen Literatur zu Epo – „bis zu 20 Prozent Leistungssteigerung konstatieren diese Studien“, meint Vayer – sowie Gesprächen mit Fahrern, die derartige Leistungssprünge ebenfalls bestätigten, destillierte Vayer die Grenzen von 410 Watt („verdächtig“), 430 Watt („wundersam“) und 450 Watt („mutiert“). Experte Vayer rechnete zudem die Leistungen einzelner Profis am Berg auf einen modellhaften 70 Kilogramm schweren Athletenkörper um und machte so die Einzelleistungen verschiedener Epochen vergleichbar.

Historisch zeichnet sich eine grüne Phase mit „normalen“ Leistungen unter 410 Watt von Toursiegern der 80er Jahre ab. Als Epo aufkam, gibt es einen Sprung. Miguel Indurain gewann die Tour 1993 noch mit 407 Watt. Ein Jahr später waren es „wundersame“ 435 Watt. In die „Mutantenzone“ von über 450 Watt gelangte der Spanier 1995. Einzelne Leistungen am Berg über dieser Grenze schafften auch die Toursieger Bjarne Riis, Jan Ullrich, Marco Pantani, Lance Armstrong und Alberto Contador. Im grünen Bereich unter 410 Watt verblieb der Toursieger von 2011, Cadel Evans. Bei Bradley Wiggins, Champion im letzten Jahr, konstatiert Vayer hingegen verdächtige Werte von 415 bis 429 Watt bei einzelnen Bergetappen.

Froome kam mit seiner Zeit in Ax zunächst auf mehr als 450 Watt. Vayer hatte für die Tour 2013 ein Radarfallensystem für Grenzleistungen aufgestellt und Zeiten zu Wattzahlen in Beziehung gebracht. Anfang der Woche korrigierte er aber seine Prognose. „Wir haben noch den aktuellen Wind einberechnet. Daraus ergab sich, dass Froome zwar schneller fuhr als Armstrong und Ullrich bei der Tour 2003, dass er dafür aber weniger Watt benötigte“, sagte Vayer. Froome ist also kein „Mutant“, sondern nur „wundersam“.

Seinen Teamchef Dave Brailsford erfreut diese Einschätzung nicht. Der bekennende Zahlenfetischist – Sky plante den Toursieg 2012 über geradezu pedantische Leistungskontrolle an den Kraftmessern – zog ein Jahr später die Aussagekraft von Leistungsmessungen allgemein in Zweifel: „Wir haben unsere eigenen Daten. Wir wissen, wie schwierig es ist, diese eigenen Daten akkurat zu behandeln und sicherzustellen, dass die Informationen stimmen.“ Anhaltspunkte bieten die Daten aber doch. „Wir können auf dieser Basis zwar keine Sanktionen verhängen. Aber wir können Risikopersonen identifizieren“, äußerte sich Michel Rieu, Berater der französischen Antidopingagentur AFLD.

Eine solche Risikoperson ist nun auch Chris Froome. Der „weiße Kenianer“ ist sich des Problems immerhin bewusst. Geduldiger als sein Kapitänsvorgänger Bradley Wiggins – der hatte im letzten Jahr kritische Journalisten unflätig als Onanisten beschimpft –, geht er auf Zweifel an der Grundlage seiner Leistungen ein. Er beteuert nicht nur, er sei „zu 100 Prozent sauber“, er macht gar ein Versprechen in die Zukunft: „Ich bin mir sicher, dass meine Leistungen auch in zehn Jahren noch Bestand haben.“

Das ist interessant. Denn herausragende Leistungen wie die seinen lassen sich für Skeptiker ganz prima mit den Wirkungsweisen des Fettverbrenners Aicar in Deckung bringen. Aicar erhöhe „die Mitochondrienzahl, also die Anzahl der Kraftwerke der Muskelzellen“ und führe „zu einem geringeren Fettaufbau“, erklärte noch vor Beginn der Tour der Kölner Dopinganalytiker Mario Thevis. Weil es noch keinen Test gibt, der die körpereigene Produktion von Aicar von der Zuführung von außen unterscheiden kann, ist die Substanz selbst bei verdächtig hoher Konzentration im Körper derzeit nicht sanktionierbar.

Man wird möglicherweise die von Froome in Aussicht gestellten zehn Jahre bis zur Entwicklung eines Tests abwarten müssen, um zu erfahren, ob seine Leistungen allein mit anderen Faktoren – die Trainingsmethoden des früheren Schwimmcoachs Tim Kerrison etwa, das kraftsparende ovale Kettenblatt oder kleinen Tricks wie dem Kühlen der Hände bei großer Hitze – erklärlich sind.