Das lange wirkende Gift der Stasi

VEREINT? In Erfurt sinniert Wolfgang Thierse über die Frage „Wann ist die Wende zu Ende?“

„Nicht wenige Ostdeutsche tragen einen Rucksack des Minderwertigkeitsgefühls“

WOLFGANG THIERSE

AUS ERFURT ANJA MAIER

So unterschiedlich kann das sein. Auf die Frage, wann denn nun endlich „die Wende zu Ende“ sei, antworten ein junger und ein alter SPD-Abgeordneter. Wolfgang Thierse, 69 Jahre alter Ost-SPD-Mitbegründer auf dem Sprung ins Politrentner-Dasein, meint: „Wenn das latente Klima des Verdachts gegen die Ostdeutschen beendet ist.“ Und Carsten Schneider, 37 Jahre alter haushaltspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, sagt: „Wenn die erste ostdeutsche Fußballmannschaft deutscher Meister wird.“

Beide sind am Dienstagabend ins Erfurter Theater Schotte gekommen, um gemeinsam mit Anja Görnitz vom Netzwerk „3. Generation Ost“ darüber zu diskutieren, wann es denn nun mal vorbei ist, mit dem Transitionszustand der Ostler. Wann sich diese Debatten endlich erledigt haben und Ost- und Westdeutsche politisch und mental vereinigt sind? Dass das Thema die Gemüter bewegt, ist daran zu erkennen, dass der Raum mit etwa sechzig Besuchern sehr gut gefüllt ist. Draußen pulsiert der Sommer, drinnen wird über Gefühle gesprochen.

Wolfgang Thierse stellt zu Beginn klar, dass die Biografien der 1989 Dabeigewesenen „nicht unser Eigentum sind – jeder kann mitreden“, auch Jüngere wie die 30 Jahre alte Anja Görnitz und ihre Netzwerk-Freunde. Deren Forderung, auch ihre Kindheitserfahrungen von Zusammenbruch und Desorientierung in den ostdeutschen Nachwende-Familien in den Einigungsprozess einzubringen, wirkt auf den ersten Blick verkopft und, ja, wichtigtuerisch. Doch hört man Görnitz zu, die von Gesprächen mit ihren DDR-sozialisierten Eltern berichtet, in denen Anklage und Rechtfertigung immer wieder aufblitzen, scheint der Wunsch nach Deutung logisch.

Thierse, 1943 geboren, erinnert dieses kommunikative Dilemma an seine eigene Jugend, an die Fragen der nach dem Krieg Geborenen an deren Eltern. Er selbst, erzählt er, habe den Krieg „daumenlutschend erlebt – mit unseren Eltern gab es danach das Beschweigen der Vergangenheit“. Die Generation der heute Dreißigjährigen hingegen „bringt ihre Eltern auf gelassene Weise zum Erzählen“. Für viele Ostdeutsche, von denen ja nicht wenige meinten, im besseren, weil friedlichen Teil Deutschlands gelebt zu haben, sei die Wende eine Erfahrung des Scheiterns gewesen: „Im Osten musste sich ab 1990 alles ändern, im Westen nichts. Nicht wenige Ostdeutsche tragen deshalb einen Rucksack des Minderwertigkeitsgefühls, die Erfahrung der Zweitklassigkeit wirkt nach.“ Dass das heute teilweise immer noch funktioniert, ist Thierses Ansicht nach das lange wirkende Gift der Stasi, die entwerteten „Biografien von Feigheit und Verrat“.

Anja Görnitz von der 3. Generation Ost berichtet, wie sie im politisch frisch vereinigten Deutschland aufwuchs. Wie sie ihre Eltern entwertete und lieber verschwieg, aus der Platte von Berlin-Marzahn zu kommen. Wie sie ihr „selbst gewähltes Kainsmal“, Ostlerin zu sein, verbarg und „erst mal kapitalistisch“ wurde. Erst mit Ende zwanzig begann sie, ihre Herkunft wertzuschätzen, die Umbruchs- und Anpassungsleistung ihrer Familie anzuerkennen. Wenn sie heute ihre Eltern fragt, wie sie genau gelebt haben in der DDR, laufe sie dennoch „erst mal gegen einen Filter“. Bevor ein Gespräch möglich sei, werde ein Rechtfertigungsgerüst errichtet: Die niedrigen Mieten! Die Kinderbetreuung! Der Brotpreis! Derlei.

Ein Mann aus dem Publikum meldet sich. Er habe die DDR nie als sein Land angesehen, erzählt er. Die Diskussion an diesem Abend zeige aber: „Die Deutungslinien verlaufen heute so, wie unsere Familien die DDR erlebt haben.“ Dass es riesige Unterschiede zwischen einer Funktionärs- und einer Pfarrersfamilie gebe, sei klar. Über beides müsse frei gesprochen werden können. Und Wolfgang Thierse ergänzt, es gebe bis heute den „Ossi-Ossi-Unterschied“: ob jemand sich als Verlierer oder Gewinner, als Kritiker oder Apologet des 89er Umbruchs verstehe. Seine eigene Erinnerung lautet: „Wir waren Helden aus Verzweiflung.“ Aber nicht jeder konnte ein Held sein.