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Archiv-Artikel

Sieg gegen das Trauma

An der Weser geht alles den Bach runter. Wenn da nicht, ja wenn da nicht der Fußballclub wäre: Im Champions-League-Achtelfinale zeigt Werder, dass Bremen auch europäisches Format haben kann

von Jens Fischer

0:3, 2:7. So lautet die Zahlenkombination des Bremer Traumas. Wer mal ein verlegenes Hüsteln, ein schamvolles Schweigen oder resigniertes „Na und?“ erleben, die heimatstolzen Weserhanseaten provozieren möchte, der braucht nur durchblicken zu lassen, dass er diesen Code kennt. Den Schock der beiden hohen Niederlagen im Champions-League (CL)-Achtelfinale 2005 gegen den französischen Meister Olympique Lyon.

Vor diesem Spiel hatte ein neugieriges „Wir-sind-wieder-wer“ in der Bremer Luft gelegen. Das abgewirtschaftete, von der Übernahme durchs feindliche Niedersachsen bedrohte Bundesländchen wollte nach der deutschen Fußballmeisterschaft so gern mal wieder zu den ganz Großen in Europa gehören. Aber man wurde: vorgeführt. Fehlender Mumm. Fehlende Klasse. Ganz bitter.

Solche KO-Erlebnisse können nur durch eben solche O.K.-Erlebnisse geheilt werden. „Diesen schwarzen Moment in unserer Laufbahn wollen wir gegen Juventus Turin auslöschen“, beschwörte Johan Micoud. Wieder CL-Achtelfinale. Das Publikum strömt in gedämpfter Euphorie ins Weserstadion – und macht Stimmung gegen die Verunsicherung. Nur nicht zu viel erhoffen. Man weiß ja, wie das ausgeht. Und man sieht, wie die Superstars des norditalienischen Nobelclubs schon beim Warmmachen loslegen.

Erst diese rhythmisch zackige Kasernenhofgymnastik. Dann wird den Spielern ein Ball vor die Füße gerollt. Ein magischer Ruck versetzt ihre millionenschwer versicherten Körper in Spannung. Mit Kurzpass-Virtuosität und Dribbelakrobatik toben sie sich warm. Jede Ballberührung ergibt sich organisch aus einer eleganten Bewegung.

Lyon war gut, Turin ist noch deutlich besser. Auf jeder Position. Sogar auf der Ersatzbank. Das Team steht mit zehn Punkten vor dem AC Mailand an der Spitze der italienischen Seria A, so dass die 23. Meisterschaft so gut wie gebucht ist. Erst ein Liga-Spiel hat der Rekordtitelträger in der laufenden Saison verloren und stellt mit 17 Gegentreffern nach 26 Spieltagen die beste Verteidigung, mit 53 Toren den zweitbesten Sturm der italienischen Liga. Geht da trotzdem was?

Nach zehn Minuten Kontaktimprovisation mit Ball geht’s los. Obwohl Juves Mittelfeld zwei Defensivkräfte vor der Abwehr postiert und sich als eisiges 1:0-Team präsentiert, findet Werder immer wieder Lücken in der abgeklärt kompakten Defensive. Während die Turiner zunehmend schneller umfallen, sich gefoult fühlen, weil sie schon Werders unbedingten Willen als Foul empfinden, den Gegner elanvoll unter Druck zu setzen. Die Bremer nutzen jede Gelegenheit, das Spiel schnell zu machen, um vom Einschlafvirus des nüchtern pragmatischen Hochleistungsschaulaufens der Gäste nicht infiziert zu werden. Werder reißt das Spiel an sich, anstatt es nur zu verwalten – wie zuletzt gegen Stuttgart, Kaiserslautern und Dortmund.

Eine derart mutige Vorstellung hat auch Turins Trainer Fabio Capello nicht erwartet, er muss seine Spieler immer wieder in die Offensive schimpfen. Werder öffnet mit kontrollierter Leidenschaft die italienische Abwehr – und auch die eigene. Um die unsichere Defensive zu stärken, hatte man in der Winterpause das heikle Spiel mit der Abseitsfalle trainiert. Erstaunlich. Denn keine Defensivtaktik erfordert mehr Souveränität der Akteure. Ein reizvolles Vabanquespiel also – mit dem Mut zu Abstimmungsfehlern. Elf Mal klappt es, fünf Mal nicht.

Juventus nutzt diese Schwäche wie zuletzt Borussia Dortmund. Lange Bälle in die Spitze, Doppelpässe durch die Mitte, steil auf die Flügel. Ibrahimovic ist frei vorm Tor, dann Patrick Vieira. Glück, Turiner Nonchalance und Torwart Tim Wiese verhindern einen Treffer.

Aber auch die Ablenkungsstrategie von den Defensivmängeln funktioniert: Kombinationsstark, beweglich, abschlussfreudig wird gestürmt, Miroslav Kloses rochierendes Spiel schafft viel Platz für Frings, Borowski, Micoud und Klasnic. Bei Standardsituationen besitzt Bremen sogar Kopfballhoheit im Strafraum von Juventus. Nach einem Dutzend aufwändig erarbeiteter Chancen hilft endlich ein vielbeiniges Strafraumgestocher weiter: 1:0 für Werder – Christian Schulz. Geradezu übermütig gefeiert.

Patrick Owomoyela bekommt richtig Lust aufs Düpieren, spielt immer wieder Pavel Nedved aus, rennt an ihm vorbei, bis sich der Gegenspieler eine gelbe Karte erfoult. Nach der Halbzeitpausen-Ansprache Capellos schaltet Turin einen Gang hoch. Für Statistikfans: Werders Torschussbilanz (17 in der 1., sechs in der 2. Halbzeit), Eckenbilanz (sieben in der 1., drei in der 2. Halbzeit), Ballbesitzbilanz (70 Prozent in der 1., 60 in der 2. Halbzeit). Damit hat die Bremer Mannschaft gegen Juventus Turin in etwa das gleiche Zahlenwerk erspielt wie in der Bundesliga-Heimpartie gegen den 1. FC Kaiserslautern, die 0:2 verloren ging.

Aber auch die gleiche Fehlerbilanz. In der 73. Minute schnappt die Abseitsfalle wieder nicht zu, in der 82. Minute ist das Zweikampfverhalten nicht robust genug: Schon steht es 1:2 (Nedved, Trézeguet). Die ersten Zuschauer gehen. 0:3/2:7 – so flackert es aus dem kollektiven Werder-Gedächtnis wieder ins Bewusstsein.

Aber während man sich gegen Lyon früh aufgegeben hatte, putscht sich das Team gegen Turin noch einmal auf. Borowski ist richtig sauer – und spitzelt ein (87.). Micoud ist richtig sauer – und drückt ein (93.). 3:2. Werder hat dazugelernt, sich als Team bewiesen. Agiert, statt zu reagieren. Ist man beim Rückspiel am 7. März ebenso aktiv, ist den Bremern auch das CL-Viertelfinale zuzutrauen. 0:3/2:7? Hat es nie gegeben.