: berliner szenen Essen mit Schreibfehlern
Legasthenikerpizza
Meine Freundin hat seit ein paar Wochen eine neue Leidenschaft. Sie ist angehende Lehrerin, und weil sie auch in ihrer Freizeit in Form bleiben will, korrigiert sie neben Schülerdiktaten auch die Speisekarten in Restaurants. Sie ist in ihrem Schwung nicht zu bremsen und geht dabei mit einer wahren Entdeckerfreude zu Werke, sucht nach Flüchtigkeitsfehlern, falsch gesetzten Apostrophen, nach Grammatikfehlern, Wortdrehern und was man sonst noch so alles falsch machen kann. Glücklicherweise tut sie das nicht mit einem Rotstift, sondern nur mit ihrem Mundwerk. Und das auch nur, wenn kein Kellner in der Nähe ist. Darüber bin ich sehr froh, denn mir wäre es ziemlich unangenehm, wenn sie den Kellner wie einen Schüler an unseren Tisch rufen würde, um ihm dann, anstatt das Essen zu bestellen, die neue Rechtschreibung zu erklären.
Mittlerweile führt sie in ihrem Kopf eine kleine, unvollständige Liste. So scheinen rund um den Kollwitzplatz sowohl Inder als auch Mexikaner und Japaner in der Orthografie topfit zu sein. Sie hat dort bisher keinen einzigen Schreibfehler entdecken können, nicht mal einen falsch gesetzten Akzent.
Im Bötzowviertel sieht das aber schon ganz anders aus. Da gibt es einen Portugiesen, der eine vorzügliche Fischsuppe mit zwei Rechtschreibfehlern anbietet. Und das italienische Restaurant schräg gegenüber hat eine orthografisch gewagte Pizza im Angebot. Aber mich stört das nicht. Wir sind dort Stammgäste, und es ist meine Lieblingspizza.
„Willst du dir etwa schon wieder diese Legasthenikerpizza bestellen?“, fragt Johanna.
Ich nicke und grinse. „Sie ist einfach so lecker, dass ich sie selbst dann essen würde, wenn sie nur mit Konsonanten geschrieben würde.“ DANIEL KLAUS