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Archiv-Artikel

reiser, deutschland etc. Singen für das Land der Mitte

Deutschland ist ein interessantes Land. Jenseits aller Debatten um Bürgerlichkeit und allen unterschiedlichen Auslegungen was man von den 68ern denn nun zu halten habe, wird es von einem so gemeinsamen wie unstillbaren Bedürfnis regiert: dem Drang zur Mitte.

Ja, man muss so weit ausholen, auch wenn man eigentlich nur vermelden möchte, dass die Popkomm gestern mitgeteilt hat, dass der Rio-Reiser-Songpreis in diesem Jahr zum ersten Mal während der Berliner Musikmesse in der dritten Septemberwoche vergeben werden wird. Denn nirgends findet sich dieses Bedürfnis sinnfälliger gespiegelt, als im Umgang mit dem ehemaligen Sänger von Ton, Steine, Scherben, der sich vom Hausbesetzer zum König von Deutschland wandelte. Ob es Joschka Fischers Weg vom Straßenkämpfer zum Außenminister ist, Friedrich Merz’ rebellische Vergangenheit als dörflicher Mofarocker oder der unbedingte Wille der taz für die Umbenennung der Koch- in Rudi-Dutschke-Straße eben auch vom CDU-Bürgermeisterkandidaten gemocht zu werden. All diese Wege in die Mitte folgen der gleichen Inszenierung, die sich paradigmatisch eben auch bei Rio Reiser durchspielen lässt. Durch die Nacht geht es ans Licht. Ohne militante Vergangenheit kein vollgültiges Mitglied des zivilisierten Deutschlands. Unter einer Vorbedingung: die Zeit, die seit den wilden Tagen vergangen ist, muss die Positionen der Vergangenheit ihres Inhalts entleert haben. Die Militanz muss zur reinen Geste geronnen sein.

Dann ist aber alles drin. „Ich leb doch“, soll das Motto des diesjährigen Songpreises lauten, und die mitmachenden Künstler werden aufgefordert, „weltoffene und humanistische Gedanken mittels ihrer eigenen Songs weiter zu tragen“. Sie müssen nicht einmal deutscher Herkunft sein, Dialekte und „multikulturelle Musikstile“ sind ausdrücklich erwünscht. Die Sängerin Ulla Meinecke und die MTV-Moderatorin Sarah Kuttner werden in der Jury sitzen. In einem Satz lässt sich das generationenübergreifende Projekt, mit diesem Preis die deutsche Popkultur befördern zu wollen, wahrscheinlich so zusammenfassen: Widersprüche gerne, sie müssen sich nur in Wohlgefallen aufgelöst haben.

TOBIAS RAPP