Einfach weitermachen

Im Schatten des Erfolgs britischer Rockmusik hat der amerikanische Indierock seine Hipness verloren. Kein Wunder. Hier wird das Gefühl verhandelt, mit der ganz großen Karriere werde es nichts mehr. Das öffnet aber Raum für ganz eigene Entwürfe

Der Zwang zur Abwechslung, geboren aus (sozialer) Perspektivlosigkeit, ist der gemeinsame Nenner dieser Bands

VON FELIX KLOPOTEK

Jene englische Rockmusik, die seit zwei Jahren so schrecklich hip ist, wird nicht zuletzt unter dem Aspekt der Klassenzugehörigkeit rezipiert. Entweder haben wir den Typ „proletarische Aufsteiger“ samt den entsprechenden Kritikerklischees: „könnten aus einem Ken-Loach-Film entsprungen sein“ – „haben schlechte Haut“ – „taumeln in den Drogenwahn“ – „Vorstadtjungs“ – „verkrachte Familien“. Oder den Typ „gehobene Mittelklasse“ – auch dazu fallen einem sofort die passenden Zuschreibungen ein: „Kunststudenten“ – „ironische Gebrochenheit (zur eigenen halb privilegierten Herkunft, aber auch zu den Proleten)“ – „arrogante Intelligenz“ – „kokette Musik mit salonbolschewistischer Attitüde“. Und dann dürfen wir sortieren: Pete Doherty und Arctic Monkey bitte zu den Proleten; Franz Ferdinand und Maxïmo Park zur Mittelklasse.

Das scheint bei amerikanischen Rockbands nicht zu funktionieren. Stets sind es andere Konfliktlinien, die im Vordergrund stehen: schwarze Musik oder weiße? Westcoast oder Eastcoast? Stadtbewohner oder Hinterwäldler? Europa-orientiert oder isolationistisch? Während nahezu jede neue Band, die aus England kommt, ungerechtfertigt viel Aufmerksamkeit bekommt, hat sich die amerikanische Indie-Musik in den letzten Jahren mehr und mehr zu einem verschwiegenen Kontinent entwickelt. Wer hat letztes Jahr die Alben von den A-Flames, The Cougars, Adult oder Lightning Bolt mitbekommen? Wer interessiert sich noch für die Projekte der früheren Spex-Helden Neil Hagerty (früher Royal Trux), Ian Svenonius (früher The Make Up) oder Howe Gelb, aus dessen Band Giant Sand sich immerhin Calexico abgespalten haben?

Letztes Jahr tourte Mike Watt in Deutschland unter Ausschluss der Öffentlichkeit, dessen Minutemen man einer der einflussreichsten Hardcore-und Punk-Bands ever nennen muss. Und wenn im Frühjahr Tomte auf Tour gehen, wird den undankbaren Job der Vorgruppe The Walking Concert machen. Hinter dieser Band verbirgt sich Walter Schreifels, der vor guten zehn Jahren mit der Emocore-Band Quicksand so etwas wie Welterfolg feiern konnte und größer war, als es Tomte je werden können. Es gibt Ausnahmen: Calexico, The Strokes, Bright Eyes – das ist halt große Rock- und Folk-Tradition – oder das LCD-Soundsystem, aber deren Mastermind James Murphy imitiert ostentativ einen britischen Akzent.

Dass in der britischen Rockmusik dieser Tage der Klassenaspekt im Vordergrund steht, hat wenig mit einem Interesse am Innenleben des Proletariats oder eines vom Abstieg bedrohten Bürgertums zu tun. Es geht um die Schnelligkeit des Aufstiegs: Je unbekannter die Band, die plötzlich zwei, drei Riesenhits hat, umso spektakulärer ihr Durchmarsch; je prekärer der soziale Background der Band oder des Künstlers, desto fabelhafter ihr Aufstieg. Und natürlich kündigt sich schon der nicht minder spektakuläre Abstieg an: Ein Prolet kann keinen dauerhaften Erfolg haben, er versäuft und verhurt ihn. Ein Kunststudent kann ihn auch nicht haben, dazu ist er zu schnöselig, zu sensibel.

Bei vielen amerikanischen Rockbands ist das anders: Da geht es um Beständigkeit, um umfangreiche Diskografien, um möglichst viele Seiten- und Nebenprojekte. Howe Gelb? Gibt es als Profimusiker seit zwanzig Jahren, hat locker dreißig Alben veröffentlicht, wurde mindestens zweimal als „next big thing“ gehandelt (Anfang der Neunziger überrollte ihn, der für Wüstenrock, Country und Gitarren-Wall-of-Sound stand, der Grunge-Hype; zehn Jahre später kam ihm seine Ex-Rhythmusgruppe, die sich dann Calexico nennen sollte, zuvor), macht weiter und wird im März sein drittes Album binnen anderthalb Jahren veröffentlichen: eine Aufnahme mit einem kanadischen Gospel-Chor.

Mike Watt? Ist im amerikanischen Underground hoch geachtet, verdient sein Geld als Live-Bassist der Pixies und der Stooges, spielt mit eigenen Projekten, mindestens drei hat er am Start, weit über hundert Konzerte im Jahr, macht weiter. So kann man das mit fast allen Indie-, Underground- und Alternative-Helden der Achtziger und Neunziger durchdeklinieren – macht weiter, macht weiter, macht weiter. Wer beim gut sortierten Plattenhändler über ein Album der Highspeed-Noise-Band Lightning Bolt stolpert und ein wenig im Netz recherchiert, wird entdecken: Auch die gibt es schon seit Jahren, sie haben fast ein halbes Dutzend Alben veröffentlicht, bewegen sich in einer stabilen Szene mit gleichgesinnten Bands.

Anfang der Neunziger waren die Interessen anders verteilt. Der typische Indierock-Nerd war Amerika-orientiert, für ihn klangen britische Bands aus Prinzip nach den Beatles oder den Stones, also uninteressant. Was an Typen wie Gelb oder Watt oder den Chicagoer Postrockern oder den Emocore-Bands aus Washington oder New York begeisterte, war nicht die Verarbeitung ihrer sozialen Herkunft, sondern ihr Behauptungswille: Wie schaffen es eigentlich diese Typen aus dem piefigen Seattle, so einen geilen Sound zu spielen? Das passte alles ganz gut zu hiesigen studentischen Lebensentwürfen: Man hat viel Zeit, man wird schon einen Job finden, man wird sich dafür nicht totschuften, sondern noch mit vierzig unter der Woche zu Konzerten von Fugazi, den Melvins, Walter Schreifels oder Howe Gelb gehen. Mochte die Welt ungemütlicher werden, die Kontinuität in den Diskografien amerikanischer Indie-Musiker verbürgte die Kontinuität der Lebensentwürfe.

Zwischen dem breiten Interesse an allen Spielarten unabhängiger – weißer, männlicher – amerikanischer Musik und dem hysterischen Interesse an britischen Rock-Klonen liegt Techno, in fast allem der Gegenpol zur strukturellen Behäbigkeit, oder besser: Zähigkeit der Amerikaner. Der Durchmarsch zum Produzentenstar konnte mit nur einer Maxi gelingen, es ging um die schnelle Rotation von Stilen und Subgenres. Was die Techno- mit der Amerika-Begeisterung gemein hatte, war eine gewisse Schluffigkeit der großen Welt gegenüber: Die Party sollte ja ewig dauern, da ist ein dauerhaftes Lohnarbeitsverhältnis nur lästig. Karriere? Nö, wir wollen ja noch die Zeit haben, in die Clubs zu gehen und in den Plattenläden nach den superrevolutionären Minimaldub-Maxis zu forschen.

Die Begeisterung für britische Rockmusik fällt sowohl hinter der hedonistischen Experimentierlust der Techno-Szene als auch hinter dem marktfeindlichen Wertkonservatismus der amerikanischen Indie-Welten zurück. Fast hat man den Eindruck, die Bands von Franz Ferdinand bis Art Brut werden nur darum so überdreht abgefeiert, weil das Publikum so viel wie möglich in extrem kurzer Zeit mitbekommen will – bevor das bittere soziale Leben, die Sorge um den Job, der Stress mit den Studiengebühren und den steigenden Mieten, alle Aufmerksamkeit absorbiert. Man kann natürlich auch mehr von der Welt mitbekommen.

Dass es mit den großen Karrieren nichts (mehr) wird, dürfte die Grundstimmung der amerikanischen Indie-Szenen sein und die Ursache für eine ungeahnte Experimentierlust und eine fast atemberaubende Beiläufigkeit ausmachen: Neil Hagerty hat vor einem Jahr mit „The Howling Hex“ eine CD vorgelegt, die Blues-Schemata und Rock-Riffs zu einer stumpf-brutalen Kürzelmusik eindampft. The A-Flames spielen einen sehr basslastigen, reduzierten Punk und klingen wie hart gekochte Joy Divison. Tortoise und Will „Bonnie Prince Billy“ Oldham liefern in ihrer Kooperation nicht das symbiotisches Meisterwerk ab, sondern covern unaufgeregt ein paar ihrer Lieblingsbands. The National Trust sind von einer Psychedelic-Soul-Band zu einem chic-eleganten House-Act mutiert. Orthrelm spielen einen extrem idiosynkratischen, absolut unübersichtlichen, aber bis ins kleinste Detail strukturierten Krach. Loose Fur, ein Gemeinschaftsprojekt von Jeff Tweedy, Glenn Kotche (beide Wilco) und Jim O’Rourke (Sonic Youth), bricht ausladende Popmusik in der Tradition von Van Dyke Parks auf das Rock-Trio-Format herunter. So unterschiedlich die Bands sind, es ist immer Musik im Windschatten.

Das geringe Produktionsbudget stecken Labels und Bands lieber in die Studioarbeit oder in die Cover-Artwork als in die Promotion. Daraus spricht eine realistische Haltung, keine Romantisierung des Nischendaseins. Im Gegenteil: Wer sich mal mit Howe Gelb unterhalten hat, merkt schnell eine gewisse Bitterkeit über den Erfolg von Calexico, der seinem im Wege steht. Also hat Howe Gelb aus seiner Band Giant Sand alle die Tex-Mex-Klänge verbannt, die heute mit Calexico identifiziert werden. Giant Sand gewinnen dadurch, klingen gestraffter und konzentrierter.

Der Zwang zur Abwechselung und permanenten musikalischen Überraschung – geboren aus (sozialer) Perspektivlosigkeit. Das wäre der Nenner dieser sonst durch nichts zu vereinheitlichenden amerikanischen Musiken. Sie eröffnen für die Hörer die Optionen für eine wieder genauere, geschichtsgesättigtere Auseinandersetzung mit dem musikalischen Material und für eine Klärung der Frage, wie soziale Verhältnisse in (zersplitterten) Popmusiken reflektiert werden. Vor allem: Diese Musiken lassen einem die Zeit dazu.