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Archiv-Artikel

TÜRKEI NACH DER EU-EUPHORIE: DIE STAATLICHE GEWALT NIMMT WIEDER ZU Des Westens falsches Vorbild

Folter und Rechtlosigkeit waren für die Türkei lange Jahrzehnte legitime Mittel zur Erhaltung des Staats. Nur die Linke kämpfte glaubhaft dagegen. Die Annäherung an die Europäische Union, das heißt, der Wunsch großer Teile der Gesellschaft, dem Club der reichen, demokratischen Staaten beizutreten, brachte in den 1990ern die Wende. Folter und „ungeklärte Morde“ durch verdeckt operierende Milizen erschienen den türkischen Eliten und auch der Bevölkerung insgesamt immer mehr als ein Schandmal, das unbedingt getilgt gehörte. Die lange Waffenpause der kurdischen PKK nach der Verhaftung ihres Chefs Abdullah Öcalan förderte ihrerseits den türkischen Rechtsstaat, der letztlich auch den Kurden zugute kam.

Diese Entwicklung droht jetzt umzuschlagen. Militärische Lösungen für politische Probleme haben weltweit Konjunktur, auch Kämpfe zwischen PKK und türkischem Militär flammen wieder auf. Wieder ist der Westen Vorbild, jetzt aber negativ, indem sich die Ansicht verbreitet: Was den starken, sich demokratisch nennenden Staaten des Westens recht ist, ist uns billig. Folter im Irak, weltweit Entführungen und Geheimknäste der CIA, stiller Konsens in der Europäischen Union – wenn die Herren der Welt das dürfen, warum nicht auch wir? Andererseits führt der Umschwung vor Augen, wie schwach der türkische Rechtsstaat und die Zivilgesellschaft noch sind.

Die Menschenrechtsverletzungen treten fast ausschließlich in Zusammenhang mit der Kurdenfrage und gegenüber schutzlosen Bürgern wie etwa Straßenjungen oder Prostituierten auf. Dass der „Erhalt der Nation notfalls auch durch Gewalt“ wieder legitim wird, ist dem Wiedererstarken des türkischen Nationalismus zu verdanken. Er sieht sich im Einklang mit der globalen Militarisierung und Renationalisierung – einer Welt voll von Heuchelei und Missachtung von Menschenrechten. Angegriffen werden wieder die Geächteten, die unliebsamen Randgruppen. Mit dieser neuen Hemmungslosigkeit, so finden die Gewalttäter, liegt die Türkei voll im internationalen Trend. DILEK ZAPTCIOGLU