Auf einem sehr hiesigen Stern

Die Heimat wird abgehakt, geblieben ist das Heimweh: Walter Kempwoski legt mit „Hamit“ seinen dritten Tagebuchband vor

von GERRIT BARTELS

Er liest sich wie ein Editorial, dieser erste Eintrag, den Walter Kempowski am 1. Januar 1990 in sein Tagebuch vornimmt: „Dieses Jahr wird uns ein Wiedersehen mit der Heimat bringen“, weiß Kempowski, denn schon einen Tag später wird er mit seinem Bruder Robert seine Heimatstadt Rostock besuchen, die Stadt, der er mit seiner „Deutschen Chronik“ ein literarisches Denkmal gesetzt hat, in der er geboren ist und seine Jugend verbracht hat und die er nach seiner Inhaftierung in Bautzen nur noch einmal besuchen konnte, 1975, für vier Tage. „Vielleicht wäre mein Heimatdrang gar nicht so stark gewesen, wenn man mich an einem Wiedersehen nicht gewaltsam gehindert hätte?“, fragt sich Kempowski und räsonniert dann weiter über die Heimat und ihre Bedeutungen, über diesen, wie er weiß, diskreditierten, oft negativ konnotierten Begriff. Und um sie in Folge ganz für sich allein zu haben, „die theure Heimat“, bevorzugt er den Mundartbegriff aus dem Erzgebirge, „Hamit“, „weil allewelt denkt, man spricht von einem anderen Stern“.

Selbstverständlich eignet sich der Begriff auch besser, um damit seinen nach „Sirius“ und „Alkor“ dritten, jetzt erschienenen Tagebuchband zu übertiteln. „Hamit“, das klingt unverdächtiger als „Heimat“, kunstvoller auch. Wie mit „Sirius“ und „Alkor“, die 1983 und 1989 situiert waren, ist es wieder nur ein Jahr, das Kempowski besichtigt: 1990, das Jahr der Wiedervereinigung, vielerorts gern bezeichnet als „deutsches Schicksalsjahr“. Und wie in den zwei anderen Tagebuchbänden wuchern in „Hamit“ die Eintragungen nicht spontan, sondern sind sorgfältig gestaltet und gestrafft. Das beweist das „Editorial“, das beweisen die Redensarten und Sprichwörter in den unterschiedlichsten Dialekten, mit denen Kempowski seine Einträge beginnt, Plattdeutsch, Jiddisch, Hessisch etc., und das beweisen die nachträglich eingefügten Kommentare aus den Nullerjahren.

Bei allem Gestaltungswillen scheut Kempowski jedoch wie üblich vor keiner Peinlichkeit zurück, stellt er Großes neben das Kleine, Allgemeingültiges, Zeitreflektierendes neben radikal subjektiven Tand. Man erfährt also auch, welches Rasierwasser ihm seine Frau Hildegard für die Rostock-Fahrt ins Reise-Necessaire gepackt hat, welche Pillen, welche Seife – und bekommt sogleich einen Hinweis auf die Bombenangriffe auf Rostock 1942, auf die brennende Marienkirche, mitsamt einer bedenkenswerten Sentenz: „Je mehr Mahnmale, desto weniger fühlen sich die Menschen betroffen. Jedes Denkmal legt Erinnerungen für immer ad acta“.

Walter Kempowski will die Erinnerung mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln wach halten, er arbeitet gegen das Vergessen. Dafür liest er Zeitungen und liefert Lesefrüchte, dafür schaut er Fernsehen und notiert, was er sieht, dafür schreibt, sammelt, kompiliert und archiviert er, nicht zuletzt in eigener Sache. 1990 ist das Jahr, in dem „Sirius“ erscheint; der Roman „Mark und Bein“ ist in Arbeit; das „Echolot“ gewinnt an Form; die ZDF-Dokumentation „Kempowski in Rostock“ wird gedreht, dazu ein niederländischer Dokumentarfilm über seine Haft in Bautzen. Und es gilt eine Affäre zu überstehen: Der Stern-Journalist Harald Wieser meint ihn des Plagiats überführt zu haben. Ein Angriff, der Kempowski gar nicht so hart angeht, wie man denken könnte, zumindest gibt das sein Tagebuch nicht her, der ihm aber einmal mehr Gelegenheit bietet, seine Arbeitsweise zu erläutern: „Ich hebe Erzählpartikel auf, wo immer ich sie finde. Die kleinen Goldstücke am Ärmel blank reiben und sie einfügen in das große Bild.“

So ist „Hamit“ ein weiterer Autobiografie-Baustein, eine Selbstbespiegelung, die in der Wirrnis der Zeit manche eigene Wirrnis entfaltet und mit der sich Kempowski von vielen Seiten zeigt: als Kleinbürger, der sich überlegt, eine Waffe anzuschaffen (die vielen polnischen und rumänischen Banden!), der sich an einem Spiegelei delektiert, der jedes Mal penibel auflistet, wenn ihm ein Auftrag ohne Honorarvorschlag angeboten wird. Als Arbeitstier, das nichts anderes tut als „Aufarbeiten! Aufarbeiten!, daß die Schwarten krachen“, als notorisch verkannter Autor, als eitler Autor, der vor allem gelobt werden will. Und als glühender Antikommunist und scharfer SPD-Kritiker, der sich über die Zustände im Osten genauso wundert wie über Oskar Lafontaine und dessen Partei, bei denen sich in Sachen Wiedervereinigung nicht mal „leichtes Schweifwedeln“ einstellt.

Doch so viele Rollen Kempowski fast spielerisch einnimmt, sosehr ihm immer wieder ein Witzchen aus der Bredouille hilft, sosehr er sich stilisiert: „Hamit“ ist radikal offen, legt die Kempowski-Psyche offen, die Kempowski-Macken, das Kempowski-Ich, das sich schön modern in viele Unter-Ichs zersplittert. Das Aufarbeiten der deutschen Vergangenheit und die eigenen Befindlichkeiten sind das eine, das andere das leicht größenwahnsinnig anmutende, absolute Erfassen der Gegenwart, diese fast hysterisch anmutende Zeitgenossenschaft unter Zuhilfenahme der Medien, „Hamit“ beschreibt auch ein durch die Medien vermitteltes Jahr 1990, und bisweilen entsteht der Eindruck, dass Kempowski das Jahr umso mehr entgleitet, je mehr er notiert und kommentiert, was in Russland passiert, in Deutschland, in Kuwait, das gerade von den Irakis besetzt worden ist. Schwer fassbar wird da dieses Jahr, es fliegt in seinem Wust und der tagebuchbedingten Fragmentierung geradezu auseinander – man sehnt sich in solchen Momenten nach einer strukturierten Geschichte, nach einem Roman wie etwa Ingo Schulzes „Neue Leben“, in dem die 1990er-Erlebnisse des Enrico Türmer durchaus exemplarischen Charakter entfalten.

Dieses Exemplarische gelingt Kempowski besser, wenn er selbst vor Ort ist, wenn er sich an seinem Heimatfaden entlangspinnt. Wenn er also in Rostocks Innenstadt „Massen von West-Idioten, denen man Fischbrötchen anbot“, erblickt oder er das Gefühl hat, „daß die Leute sich hier in ihrer Brühe ganz wohl zu fühlen scheinen“. Aber auch auf Lesetouren in Dresden, Leipzig oder Berlin, wo er ein wenig beachteter Autor ist, der dazu noch entdeckt, dass Grass, Lenz und Johnson in den Buchregalen stehen, er aber nicht: „Da wirkt Bautzen wohl noch nach“. Am überzeugendsten, gegenwärtigsten wirkt er als staunender, sich über die Unzulänglichkeiten des Ostens ereifernder Westler. In Güstrow etwa kauft er vier DDR-Uhren, fragt, ob die denn gehen würden, und stellt fest: „Das sind so Taktlosigkeiten, die man sich zuschulden kommen läßt. Sie tragen nicht gerade zur Ost-West-Verständigung bei. Aber man kann auch nicht dauernd auf Zehenspitzen gehen.“

Vor allem in Rostock aber überlagern sich Vergangenheit und Gegenwart, hier bekommt „Hamit“ seine thematische Feinstruktur. Kempowski ist hier fremd, Heimat hin oder her, er ist „der Okapi unter den Giraffen“, er wandert durch die Stadt wie durch ein Museum, und der ZDF-Film befördert diesen Eindruck nur, weiß er doch, dass so ein Film „genau das zeigen wird, was man nicht meint, und daß das herausgeschnitten wird, was einem am Herzen liegt“. Schenkt man ihm Glauben, hat sich das Sehnen nach der Heimat am Ende erledigt, haben sich Rostock und Bautzen „aus-gedacht“. Die Heimat ist abgehakt, und „geblieben“, so schließt Kempowski, „ist das Heimweh“. Ebenfalls geblieben, das weiß man jetzt, sechzehn Jahre später, ist der Drang weiterzumachen, immer weiterzumachen, die Zeit weiterzuschreiben, in Romanen, auf Zetteln, anhand von fremden Biografien, in Tagebüchern, so wie es in einem noch der Veröffentlichung harrenden Tagebuch von 1997 heißt: „Im U-Boot durch die Weltmeere fahren, immer am Periskop“.

Walter Kempowski: „Hamit. Tagebuch 1990“. Knaus, München 2006, 432 Seiten, 24,95 Euro