WOLFGANG GAST LEUCHTEN DER MENSCHHEIT : Der überschätzte Geheimdienst
Ein Mann, ein Buch und ein Streit um Zahlen. Ilko-Sascha Kowalczuk, Projektleiter in der Stasiaktenbehörde, hat es geschafft, uns eine neue Debatte um die Hinterlassenschaft der Staatssicherheit der DDR aufzutragen.
Nicht, dass wir die wirklich gewollt hätten. Die Botschaft in seinem Anfang des Jahres erschienenem Buch „Stasi konkret. Überwachung und Repression in der DDR“ (C. H. Beck Verlag, 2013) geht etwa so: Die Anzahl der fiesen Inoffiziellen Mitarbeiter (IM), die dem Stasi-Kraken anno 1989 zuletzt noch zu Diensten war, wird in der Forschung und unter Historikern bei weitem überschätzt. Man müsse eher von 109.000 IM ausgehen als von den 189.000, die in der Literatur immer wieder genannt werden. Beleg: eine interne Aufstellung, die das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) im Auftrag des obersten Tschekisten Erich Mielke vor dem Kollaps der DDR verfasste. Auch andere Zahlen: etwa die der Inoffizielle Mitarbeiter, die der Stasi ihre Wohnung für konspirative Treffen zur Verfügung gestellt hätten, seien mitunter gehörig übertrieben und müssten heute hinterfragt werden.
Und überhaupt: Die Stasi werde immer gerne überschätzt. Zum einen habe sie sich vor 1989 selber gerne (und zu Unrecht) als supereffizienten Geheimdienst mystifiziert, dann nach der Wende sei noch die Dämonisierung des Mielke-Imperiums als des Reich des Bösen dazugekommen. Kowalczuk weiß, dass seine Thesen Widerspruch geradezu herausfordern. In einen Rundfunkinterview erklärte er : „Na ja, jeder Mensch, der in der Öffentlichkeit agiert und seinen Kopf aus dem Fenster herausstreckt und dann zuweilen womöglich noch etwas anderes sagt als der Mainstream, handelt sich Ärger ein. Aber das passiert mir nicht das erste Mal, und ich schaue da relativ gelassen auf die Debatte.“ Das mit dem Kopf einmal dahingestellt. Der Mitvierziger macht es sich selber schwer, wenn er von einer „medialen Skandalisierung“ der Stasi spricht und den durchaus hinterfragbaren Statistiken über die Mitarbeiter des MfS dann seine eigenen, ebenso hinterfragbaren Statistiken entgegenhält.
Man kann dem Autor durchaus folgen, wenn er schreibt, „so wie das MfS ab Ende 1989 zum Hauptsündenbock für die Verhältnisse in der DDR erklärt wurde, so ist auch der IM zu einer fast einzigartigen und monströsen historischen Figur geworden, die offenbar für alles historisch-politische Verantwortung trägt, was das SED-Unrechtsregime hervorbrachte“. Und natürlich hat er recht, wenn er ausführt, „die Staatssicherheit war nicht nur ‚Schild und Schwert der Partei‘, sondern sie war ein konstitutionelles Strukturelement der Partei selbst.“ Um das zu betonen, braucht es aber auch nach 23 Jahren nach dem Ende der DDR, keine neuen Zahlenspielereien. Lässt man diese weg, ist Kowalczuks „Stasi konkret“ aber ein durchaus lesenswertes Buch.
■ Der Autor ist Redakteur der taz Foto: privat