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Archiv-Artikel

Harte Strafen für Jugendliche

URTEIL Der Bundesgerichtshof hat die nachträgliche Sicherungsverwahrung von Jugendlichen gebilligt. Das seit 2008 geltende Gesetz 2008 verstoße nicht gegen die Menschenrechte

Die Frage ist, ob das Verhalten eines Täters in der Zukunft absehbar ist

KARLSRUHE apn | Mit seinem Urteil zur nachträglichen Sicherungsverwahrung eines zur Tatzeit jugendlichen Sexualmörders hat der Bundesgerichtshof eine Entscheidung von großer Tragweite getroffen. Der heute 32-jährige Mann, der mit 19 eine Joggerin aus sexuellem Motiv umbrachte und dafür schon mehr als zehn Jahre im Gefängnis gesessen hat, kommt nun möglicherweise nie mehr auf freien Fuß. Das Urteil ist unter Juristen umstritten.

Die Karlsruher Richter bestätigten am Dienstag die Entscheidung des Landgerichts Regensburg, die den Mann als gefährlich für die Allgemeinheit eingestuft und nach Verbüßung seiner Jugendstrafe von zehn Jahren Haft eine Sicherungsverwahrung angeordnet hatte. Der Tübinger Strafrechtler Jörg Kinzig äußerte sich in einer ersten Reaktion erstaunt über das Urteil des BGH. „Wer kann einigermaßen sicher sagen, wie ein 19-jähriger Täter sich weiterentwickelt“, sagte er der Nachrichtenagentur DAPD. Schon bei erwachsenen Straftätern sei es schwer, das weitere Verhalten vorherzusagen. „Bei einem jugendlichen Straftäter ist diese Prognose noch viel schwieriger“, äußerte der Professor.

Die Justiz steht nach seinen Worten vor dem Dilemma, einerseits den Schutz möglicher Opfer garantieren zu müssen, andererseits hat nach dem deutschen Rechtsverständnis aber jeder Täter die Chance, nach Verbüßung seiner Strafe wieder in Freiheit zu gelangen. Die zuerst von den Nationalsozialisten eingeführte Sicherungsverwahrung ist eine Ausnahme dieses Grundsatzes. Einen perfekten Schutz kann sie aber nach Einschätzung von Kinzig dennoch nicht bieten. Die Zahl der Verwahrten hat sich seit Mitte der 1990er-Jahre mehr als verdoppelt.

Seit 1998 wurde das entsprechende Gesetz mehrfach verschärft (siehe unten). Die Schwerkriminalität hat in diesem Zeitraum laut Kinzig nicht zugenommen, wohl aber die Sensibilität sowohl in der Bevölkerung ihr gegenüber als auch die Bereitschaft der Justiz, das Mittel der Sicherungsverwahrung anzuwenden. Streng genommen gilt sie auch nicht als Strafe, sondern als sogenannte Maßregel, und genau diese Definition wurde auch vom Europäischen Gerichtshof kritisiert. „Das ist rechtlich ungeheuer schwierig, das verstehen nur noch ganz wenige“, meinte der Professor. Für die Justiz bedeutet die Sicherungsverwahrung, die seit 2008 auch nachträglich für Jugendstraftäter angewandt werden kann, nach Einschätzung des Juristen eine „enorme Last und Verantwortung. Stellen Sie sich vor, ein Gericht entlässt einen Straftäter und er wird schwer rückfällig, und das wird über die Medien transportiert.“ Weil zugleich all die anderen Fälle, „in denen alles gutgeht“, nicht öffentlich wahrgenommen würden, komme es zu einer verzerrten Wahrnehmung. Eine unter Verantwortung von Kinzigs erstellte Studie deutet darauf hin, dass die Gefährlichkeit von zu Sicherungsverwahrung verurteilten Straftätern deutlich überschätzt wird. So wurde bei rund der Hälfte der untersuchten Personen die Verwahrung schon einmal zur Bewährung ausgesetzt, und die weitaus meisten von ihnen bewährten sich in Freiheit. Dennoch muss nach Einschätzung des Experten die Risikoverteilung ernst genommen werden. Wenn denn eine Sicherungsverwahrung notwendig ist, sollte sie aber nach Auffassung des Professors anders gehandhabt werden.

Die Unterbringung müsse großzügiger werden, und es sollten mehr Therapien angeboten werden, forderte er. Ethisch problematisch ist für Kinzig auch der Umstand, dass ein Teil der Sicherungsverwahrten inzwischen aus Altersgründen in den Gefängnissen sterben und die Strafanstalten auf ein menschenwürdiges Sterben in Unfreiheit nur unzureichend vorbereitet seien.

Ob die nachträglich angeordnete Sicherungsverwahrung für Jugendliche auch grundsätzlich weiter in Deutschland Bestand hat, müssen allerdings noch die deutschen Gerichte klären. Die Verteidigung des Regensburger Sexualtäters kündigte unterdessen an, das Bundesverfassungsgericht anzurufen und auch notfalls bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg zu gehen.

Bei beiden Gerichten sind derzeit ohnehin noch weitere Verfahren zu der Frage anhängig.