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Archiv-Artikel

Magst du Mortadella?

Das würde Klein-Robby im Chat gern fragen, doch dann geht’s wieder nur um Busen und so. In Miranda Julys als Super-Indie gefeiertem Spielfilmdebüt „Ich und Du und alle, die wir kennen“ stellt sich ein romantisch-abgründiges Suburbia-Gefühl ein

VON MADELEINE BERNSTORFF

Miranda Julys Kurzfilm „Nest of Tens“ (2000) macht etwas fassungslos. Seltsame Verhältnisse stellen sich dar: Kinder tun Dinge, die gleichzeitig erwachsen und unvorhersehbar, infantil und verstörend sind. Die Erwachsenen sind retardiert. Sexualität wird unaufgeladen thematisiert, gleichzeitig zeigt die Regisseurin ein obsessives Interesse an anderen physischen und nichtphysischen Kontaktaufnahmen. Ein Baby wird von einem kleinen Jungen akkurat mit rosa Wattebäuschen behandelt, dann malt der Junge Einsen und Nullen auf ein Blatt Papier, um das Baby fernzusteuern – geht es vielleicht darum, wie Menschen Digitalität verkörpern könnten in der Welt?

Der Film ist voller Berührungen, intimer und weltlicher Kontrollmethoden, komischer versteckter Mechanismen. Inszeniert ist das mit dokumentarischer Qualität, mit der Unmittelbarkeit von Performance. Und immer voller Verletzlichkeit, die aber ganz undüster daherkommt und keinesfalls um der Schmerzen willen ausgestellt wird. Seltsame Substitute treten an die Stellen des Erwarteten.

Miranda July sagt, „Nest of Tens“ sei die Skizze zu ihrem ersten Spielfilm „Ich und Du und alle, die wir kennen“, der jetzt in den Kinos startet. Sie kommt mit ihrem freundlichen Riot-Grrrlism aus dem Umkreis der Independent-Musikszene, drehte ein Video für Sleater-Kinney und nahm selbst zwei Alben auf. In ihrer Performance „The Swan Tool“ ging es um eine Frau, die nach dem Tod weiterleben kann. Sie lässt sich zwar begraben, arbeitet aber trotzdem als Putzfrau weiter in einem Bürotrakt. Miranda July selbst spielte 45 Minuten lang vor zwei horizontalen Leinwänden alle Figuren synchron zu den Videobildern auf der Leinwand. Das Gute an Performance sei, sagt sie, dass die Leute nicht genau wissen, was das ist – so ist dieses Feld ziemlich offen.

Ansonsten ist sie interessiert an kollaborativen Prozessen, macht Fanzines und Radiostücke, schreibt Kurzgeschichten und organisiert „Joanie 4 Jackie“ – ein alternatives Vertriebssystem für Videomacherinnen. Wo kommt das alles her? Als Miranda July neun Jahre alt war, zeigte ihr Vater ihr Kenneth Angers „Scorpio Rising“ und Stan Brakhages „Mothlight“, die sie zutiefst langweilten: diese Mottenflügel – na und?! Sie nennt das den Snobismus, den sich Kinder von „kulturellen Pionieren“ leisten können, sie nehmen Mottenflügel für selbstverständlich, das bildet einen etwas undurchdringlichen Dunst um sie und prägt sie dann doch.

Das Drehbuch zu ihrem stark von ihrer Performancearbeit inspirierten Spielfilm „Ich und Du und alle, die wir kennen“ entwickelte Miranda July im Sundance Sceenwriters Lab. Aber ohne die Unterstützung des britischen Film Four Lab wäre der Film, der nun als der preisüberhäufte amerikanische Super-Indie gehandelt wird, nicht zustande gekommen. „Diesen Film zu drehen war das Anstrengendste, was ich jemals gemacht habe, er handelt von Leuten, die versuchen herauszufinden, wie sie sich berühren können. Aber mehr von dem Versuch, als vom Berühren selbst“, schreibt sie im Blog auf der Webseite des Films, „nach der Sundance-Aufführung brach ich zusammen“.

Die Hauptfigur Christine, gespielt von Miranda July selbst, ist Künstlerin und jobbt als Fahrerin für alte Leute. Die Hinweise auf die Kunstszene sind zart und bissig. Die schicke Galeristin schmettert ihre Arbeit erst mal mit eisiger Institutionsautorität ab. Im „Zentrum für zeitgenössische Kunst“ läuft gerade die Ausstellung „Furcht und Schrecken“, als Nächstes wird dann „Warmes 3D mit Berühren im digitalen Zeitalter“ eröffnet. Irgendwann trifft Christine auf den Schuhverkäufer Richard, den seine Frau gerade verlassen hat und der nun versucht, seinen beiden Söhnen gerecht zu werden. Er hat sich die Hand angezündet, aber eigentlich brennt seine Seele. Christine aber, die einsame Künstlerin, die zu Hause Videogespräche mit sich selbst in verteilten Rollen inszeniert, kann ihren Blick und ihre Sinne nicht mehr abwenden von Richard, sie streunt durch das Kaufhaus, in dem er arbeitet, lenkt ihn von seinen Verkaufsgesprächen mit Söckchen an den Ohren ab und schreitet mit ihm eine Straße entlang. Ein Dialog darüber, wie diese Straße der Weg ihrer Liebe sein könnte, ist voller melancholischer Sexyness.

Aber Richard ist noch ganz verstockt in seinem Schmerz. Eigentlich verhält sich der Vater wie ein Kind, die Vaterrolle anzunehmen verstört ihn. Der eine Sohn ist vierzehn. Zwei Teenager in ihrer sexuellen Experimentierphase schlagen ihm einen „Jimmy-haha“ vor, woraus dann ein präzise arrangierter Blowjob-Wettbewerb wird. Der kleine Robby ist sieben, sein großer Bruder nimmt ihn mit in einen Chatroom. Er würde die Person am anderen Ende gern fragen, ob sie Mortadella mag, aber es geht doch mehr um Busen und so. Daraufhin entwickelt er beim Chat die transgressivsten Sexideen, deren Option auf „hin-und herkacken – für immer“ ihre Wirkung auf die Chatpartnerin nicht verfehlt. Der San Francisco Chronicle warnt vor verstörendem sexuellem Inhalt. Der ganze Film strahlt ein romantisch-abgründiges Suburbia-Gefühl aus, ist voller emphatischer Gesten und schmeckt ein bisschen wie ein Brausebonbon.

„Ich und Du und alle, die wir kennen“. R.: Miranda July. Mit Ellen Geer, Miranda July u. a., USA 2005, 90 Min.