: Auf Kante genäht
MODEindustrie Wer sich in der boomenden Textilbranche von Bangladesch behaupten will, muss hart kämpfen. Fast zwanzig Jahre gelingt das zwei Unternehmern. Dann geschieht die Katastrophe
■ Inspektionen: Seit dem Fabrikunglück haben die Textilindustrie und eine technische Universität rund 400 der 6.000 Textilfabriken Bangladeschs geprüft. Mindestens 20 Fabriken mussten wegen schwerer Verstöße sofort geschlossen werden. Auch die Regierung kündigte eigene Inspektionen an. Der Textilminister schätzt, dass 200 bis 300 Fabriken geschlossen werden müssen.
■ Brandschutz: Am Montag ist für die Lieferanten von 70 Konzernen ein Brand- und Gebäudeschutzabkommen in Kraft getreten. Das Abkommen haben vor allem europäische Unternehmen wie H&M, C&A, Kik, Zara, Benetton, Tchibo und Primark unterzeichnet. In den nächsten neun Monaten sollen tausende Fabriken inspiziert werden. 17 Firmen aus den USA, darunter Walmart und GAP, kündigten ein eigenes Abkommen an.
■ Rekordeinnahmen: 60 Prozent von Bangladeschs Textilexporten gehen nach Europa. Im Geschäftsjahr 2012 hat die Industrie Bekleidung im Wert von etwa 18 Milliarden Dollar exportiert. In diesem sind es 21,5 Milliarden Dollar.
AUS DHAKA LALON SANDER
Zwei Stunden nachdem seine Fabrik zu einem Haufen Trümmer geworden ist, ruft Mahmudur Rahman einen Geschäftsfreund an. „Ich habe alles verloren, mein Leben ist am Ende“, ruft er. Er habe am Telefon geweint, erinnert sich der Freund, und gesagt, er werde aus der Sache wohl nie mehr rauskommen.
Am 24. April brechen die Wände des Hochhauses namens Rana Plaza zusammen. Es liegt in einer Kleinstadt in der Nähe von Bangladeschs Hauptstadt Dhaka. Mahmudur Rahman gehören mit seinem Partner Textilfirmen auf drei Etagen des eingestürzten Gebäudes. Seit diesem Tag besitzt er keine Fabriken mehr. Nur noch drei Millionen Euro Schulden. Er sitzt in Untersuchungshaft. Der Vorwurf: kriminelle Fahrlässigkeit.
Zwei Stunden nach dem Einsturz fürchtet auch die 19 Jahre alte Näherin Akhi, dass ihr Leben am Ende ist. Die Decke im dritten Stock hängt so tief, dass sie darunter kaum aufrecht sitzen kann. So wird sie sich nach ihrer Rettung erinnern. Der Staub zieht sich als dünne Schicht über ihre Kleidung, ihre Haare, ihre Haut. Um sie herum liegen die Überreste von Mahmudur Rahmans Fabrik: zerschmetterte Nähmaschinen, zerquetschte Stoffballen – und die Leichen von Näherinnen.
Hemden von Benetton, eine Kollektion von Kik
Als das Rana Plaza an diesem Mittwochmorgen einstürzt, befinden sich mindestens 3.500 Menschen in den acht Stockwerken des Gebäudes. Die meisten sind Arbeiter und Arbeiterinnen der fünf Textilfabriken, die sich auf sechs Etagen verteilen. Im Laufe der nächsten drei Wochen werden 1.129 von ihnen tot geborgen werden, 2.438 werden aus den Trümmern gerettet.
Die Bilder von Mahmudur Rahmans zertrümmerter Firma sind nach dem Einsturz überall auf der Welt zu sehen. Besonders in Europa und den USA geht die Tragödie vielen nahe, denn sie tragen Kleidung, die im Rana Plaza genäht wurde. Baumwollhemden von Benetton, Hosen von Primark, Polohemden von Mango, eine Kollektion von Kik.
Damit die Sachen in den Industrieländern so billig sein können, werden in Bangladesch Arbeiterinnen und Arbeiter ausgebeutet. Das Schnäppchen aus dem Klamottenladen in Berlin oder Brüssel wird von Menschen in Tausenden Kilometern Entfernung bezahlt – manchmal mit dem Tod.
Der Einsturz des Rana Plaza ist nicht das erste Unglück der Textilindustrie in Bangladesch. Es wird nicht das letzte sein. Die Branche ist eine der lukrativsten des Landes, aber auch eine der riskantesten. Wenn alles gut geht, beschert sie den Fabrikbesitzern traumhafte Profite. Sie hat deshalb Unternehmer angelockt, die ihr weniges Geld schnell vermehren wollten.
Wenige hatten Glück und sind zu Millionären geworden. Viele andere verdienen mal besser, mal schlechter. Manche überleben, manche gehen pleite. Und einige, wie Mahmudur Rahman und sein Kompagnon Bazlus Samad, haben Pech: Ihr Geschäftsmodell bricht zusammen.
Einen Tag vor dem Einsturz sieht die Zukunft von Rahman und seinem Partner noch vielversprechend aus. Am Dienstag, dem 23. April, nähen Frauen wie Akhi für die beiden Unternehmer in zwei Fabriken im Rana Plaza. Die eine, im zweiten Stock, heißt New Wave Bottoms. Die im sechsten und siebten New Wave Style.
Sie haben Kunden aus den USA und Europa, in zwei Tagen sollen zwei Ladungen verschifft werden, darunter eine für Primark im Wert von mehreren hunderttausend Euro. In ihren Fabriken arbeiten laut dem nationalen Verbandsregister 1.600 Menschen, und bald wollen sie expandieren: In der achten Etage stehen schon Hunderte Nähmaschinen – sie sind noch verpackt.
Von Rahman und Samad gibt es nur die Bilder aus dem Verbandsregister und jene, die während ihrer Festnahme gemacht wurden. Dazwischen ist ein Jahrzehnt vergangen. Beide haben inzwischen graue Haare. Rahman trägt einen präzise rasierten Bart. Samad hat eine Glatze bekommen. Bei der Festnahme blickt er einen der Fotografen durch seine randlose Brille fast herausfordernd an.
Die beiden Männer haben eine Unternehmerkarriere gemacht wie viele in der Textilindustrie von Bangladesch. Mitte der 90er Jahre ist Mahmudur Rahman mit dem Studium fertig. Sein Vater ist Lehrer, ein ordentlich bezahlter Job. Die Familie besitzt ein mehrstöckiges Haus in einem Außenbezirk der Hauptstadt Dhaka.
In den Jahren zuvor haben die ersten Textilfabriken in Bangladesch eröffnet, jetzt beginnt der Boom. Die Löhne in Ländern wie Südkorea oder Taiwan werden den europäischen und US-amerikanischen Firmen zu teuer. Sie verlagern ihre Produktion auf den indischen Subkontinent: Pakistan, Sri Lanka und Bangladesch werden zu den neuen Billiglohnländern.
Gemeinsam mit Samad, einem Studienkollegen, investiert Rahman in eine Textilfabrik auf den oberen Stockwerken seines Elternhauses. Im Erdgeschoss wohnt die Familie. Der erste Kredit kommt vermutlich von Samads Vater, einem ehemaligen Staatssekretär, dessen Einfluss auch die Anmeldung des Unternehmens erleichtert haben soll. In den nächsten zehn Jahren arbeiten sie vor allem für den europäischen Markt. Im Jahr 2003 melden sie mit 110.000 Euro Eigenkapital eine zweite Fabrik an: New Wave Style.
Im Industriebezirk Mirpur im Norden Dhakas, eingepfercht zwischen einem Slum, einem Wohngebiet für Staatsbedienstete und einer Kaserne, richten sie sich auf drei Stockwerken eines Hochhauses ein. Rahmans Firma expandiert wie die gesamte Textilindustrie: Anfang der 90er Jahre exportiert Bangladesch jährlich Jeans, Hemden oder T-Shirts im Wert von 800 Millionen Dollar, fünfzehn Jahre später sind es fünf Milliarden.
Das ist nur der Anfang. Dank der niedrigen Löhne verdreifacht sich der Umsatz bis 2012. Auch nach dem Unglück im April steigen die Textilausfuhren weiter: auf 21,5 Milliarden Dollar bis Ende Juni, wie die Außenhandelsvereinigung des Landes für das laufende Geschäftsjahr in dieser Woche mitteilte.
Im Jahr 2008 will der Hausbesitzer die Fabriken aus seinem Gebäude werfen. Er braucht den Platz, weil er in den Räumen ein Krankenhaus eröffnen möchte. Umzüge mit ganzen Fabriken sind teuer. Man kann über Wochen nicht mehr produzieren. Wer das Geld hat, kauft deshalb eigene Fabrikgebäude. Nur wer es sich nicht anders leisten kann, mietet sich ein. So wie Rahman und Samad.
Jede zehnte Fabrik könnte gegen Baurecht verstoßen
Ein Hochhaus im Norden Dhakas, der Firmensitz der Rising Group. Deren Chef, Mahmud Hasan Khan, besitzt selbst mehrerer Fabriken und beschäftigt 7.000 Arbeiter. Er ist ein einflussreiches Mitglied des Verbands der Textilexporteure und kennt Samad und Rahman seit Jahren. Sein Büro ist im achten Stock des Gebäudes, aus seinem Fenster sieht man die Flachdächer des Industriegebiets.
Beim Gespräch sitzt ein nervöser Assistent mit am Tisch, Rollen von Bauzeichnungen in der Hand. „Ich habe mir die Baupläne für alle meine Fabriken bringen lassen“, sagt Khan. „Wissen Sie, wir haben mit so etwas niemals gerechnet.“ Und das, obwohl bereits 2005 ein Fabrikgebäude eingestürzt war, mit 64 Toten. Nach dem Unglück im Rana Plaza suchen die Fabrikbesitzer verzweifelt nach den Zeichnungen: Viele Gebäude sind umfunktionierte Wohn- oder Marktgebäude, viele Pläne längst verschollen. Oft sind die Gebäude so alt, dass sie noch vor den jetzigen Bauvorschriften gebaut wurden. Aktuelle Studien zeigen: Jede zehnte Fabrik könnte gegen das Baurecht verstoßen.
Mit einer Handbewegung scheucht Khan seinen Assistenten aus dem Zimmer. Er erzählt, wie er mit Samad und Rahman 2008 ihren Umzug besprach: „Ich habe den beiden damals geraten zu kaufen, statt zu mieten.“
Samad und Rahman mieten aber erneut. Diesmal etwa 40 Kilometer außerhalb von Dhaka, in der Kleinstadt Savar, in einem Neubau, der gerade fertig geworden ist: dem Rana Plaza. In den ersten zwei Etagen sind eine Bank, eine Moschee und Läden untergebracht, dann: eine Fabrik über der anderen. Sie investieren erneut 100.000 Euro und gründen New Wave Bottoms, das in die dritte Etage einzieht. New Wave Style kommt im sechsten und siebten Stockwerk unter. Ein Haus zu kaufen, dafür hätte das Geld nicht gereicht. Die Statik des Gebäudes sorgt sie nicht, es ist ja erst ein Jahr alt.
Dienstag, der 23. April – der Tag vor dem Einsturz – ist für Akhi ein gewöhnlicher Arbeitstag. Gegen 7.15 Uhr verlässt sie die Einzimmerwohnung, die sie mit ihren Eltern teilt. Ihr Vater fährt eine Lastenrikscha. Ihre Mutter hat in einer Textilfabrik gearbeitet, ist jetzt aber chronisch krank. Das Zimmer befindet sich neben sechs anderen, deren Türen alle auf einen schmalen Hof führen. Die Nachbarn teilen sich Toiletten und Küche. In Savar wohnen Tausende Arbeiterinnen so, viele in Wellblechhütten und manche, wie Akhis Familie, in Häusern aus Ziegelstein.
Über eine schmale, unbefestigte Gasse läuft Akhi morgens zum Hintereingang des Rana Plaza. Im Regen weicht der Boden auf und die Rikschas hinterlassen überall Fahrrinnen.
Morgens braucht Akhi zehn Minuten zum Rana Plaza. Die Arbeit beginnt um 8 Uhr, doch die Arbeiterinnen sind schon früher da. Sie betreten das Gebäude durch einen Hintereingang, halten eine Chipkarte gegen einen Automaten. Danach zwängen sie sich eine schmale Treppe hinauf, der Zement unverputzt.
In der zweiten Etage des Rana Plaza, wo Akhi bei New Wave Bottoms arbeitet, bilden die Näher und Näherinnen vier Einheiten, die im Akkord Hosen herstellen. Jede Einheit sitzt an einer langen Tischreihe und besteht aus etwa 70 Arbeitern, die ein Kleidungsstück nähen, in dieser Fabrik sind es Bundfaltenhosen oder Jeans.
An einem Ende der Tischreihe wird die Vorderseite der Hosen genäht, am anderen die Hinterseite. Jeder Arbeiter macht einen Schritt, ein und dieselben Handgriffe, Hunderte Male täglich, und gibt die Hose Richtung Mitte weiter. Dort werden die Hälften zusammengenäht. Akhi sitzt außen, sie näht Hosentaschen.
In der Halle gibt es keine Ventilatoren und das Sprechen mit den Nachbarn ist verboten. Zwei Frauen, die sich während der Arbeit unterhielten, so erinnern sich Kolleginnen, mussten sich auf Tische mitten im Raum stellen, während der Vorarbeiter sie beschimpfte. Die Arbeitstage enden am Abend, nach zehn, zwölf oder vierzehn Stunden. Es ist oft längst dunkel, wenn Akhi ihren Ausweis an den Automaten hält, um sich auszuloggen. Neben der Arbeit hat sie meist nur Zeit, um zu essen und zu schlafen. Einen Tag im Monat bekommt sie frei.
Rahman und Samad sind täglich in der Fabrik, ihr Büro ist auf derselben Etage wie New Wave Bottoms. Manchmal laufen sie durch die Reihen der Arbeiter, unterhalten sich aber selten mit ihnen. Trotz der Bedingungen halten die Arbeiter sie für gute Chefs. Das Gehalt sei regelmäßig gezahlt und die Überstunden fair abgerechnet worden, erzählen sie. Samad habe mal gesagt, erinnert sich ein Näher, wer Probleme habe, dürfe zu ihm kommen. Rahman dagegen halten sie für etwas seltsam, wegen seines stechenden Blicks.
An diesem Dienstag endet der Tag ungewohnt früh. Gegen 10 Uhr beginnt der Putz von einem Pfeiler neben Akhis Nähmaschine zu bröckeln. Die Arbeiterinnen sind aufgeregt. Auch die Vorarbeiter wissen nicht weiter. Sie schicken die Arbeiter nach Hause: „Kommt nach der Mittagspause wieder.“ Doch als sie um 14.30 Uhr zurückkehren, ist das Tor verschlossen. Sie gehen nach Hause und rätseln, ob sie für den ausgefallenen Tag bezahlt werden und ob es morgen Arbeit geben wird.
Im Zentrum Dhakas, unweit eines Fünfsternehotels, liegt der Sitz des mächtigen Textilexporteurverbands. Es ist ein 15-stöckiges Hochhaus mit Glasfassade, gebaut auf einem aufgefüllten Teich. Erst im März hat das höchste Gericht des Landes die Regierung angewiesen, es einzureißen, weil es auf besetztem Land gebaut ist. Passiert ist bislang nichts.
Ein alter Freund wickelt die Geschäfte der beiden ab
Die zehnte Etage ist leer und unverputzt, sie sieht aus wie eine Baustelle. Nur in einer Ecke versteckt sich hinter einer Glastür die klimatisierte Firmenzentrale der Creative Group. Die Firmengruppe gehört Ferdaus Parves, ebenfalls ein mächtiger Textilunternehmer. Er ist mit Mahmudur Rahman im gleichen Stadtteil aufgewachsen, kennt ihn als Jugendlichen von Sportveranstaltungen. Dass sie eines Tages in derselben Branche arbeiten würden, ist Zufall. Heute versucht Parves die Geschäfte der beiden Männer abzuwickeln. Zu retten, was zu retten ist. Er rechnet damit, dass die beiden drei Millionen Euro Schulden haben.
„Sie hatten gute Kunden“, erzählt er. Regelmäßig hätten Rahman und Samad die irische Billigmarke Primark und die US-Firma „The Children’s Place“ beliefert. Unterlagen aus den Trümmern des Rana Plaza belegen zudem: Die Fabriken produzierten auch für das dänische Unternehmen Texman. Und für die italienische Modemarke Benetton, die noch im März mit 40.000 Hemden beliefert wurde.
Kreditunterlagen, die der taz.am wochenende vorliegen, zeigen, dass 2012 ein gutes Jahr für Rahman und Samad war. 6,7 Millionen Euro Umsatz. 250.000 Euro Reingewinn. Bei 210.000 Euro Eigenkapital ist das eine sehr gute Quote. Genau dieser Umstand macht das Modell aber auch so unsicher: Ein Großteil der Produktion wird über Kredite finanziert. Die Kreditunterlagen zeigen: Sie haben sich 1,7 Millionen Euro geliehen. Ihr Rating liegt im Mittelfeld. „Die Firma kann nur unzureichend finanzielle Verbindlichkeiten bedienen“, kommentiert die Ratingfirma. Sie enthalte „spekulative Elemente, die ein erhebliches Kreditrisiko darstellen“.
Es ist ein weit verbreitetes Geschäftsmodell, erzählen auch andere Fabrikbesitzer in Bangladesch. Mit dem eigenen Geld kaufen sie Maschinen und die Fabrikeinrichtung. Sie akquirieren Aufträge, für die die Käufer Zahlungsgarantien, sogenannte Akkreditive, bei der Bank hinterlegen. Mit diesen Garantien sichern die Fabrikbesitzer ihrerseits Garantien, um Stoff, Garn und Knöpfe zu kaufen.
Löhne, Miete und andere laufende Kosten finanzieren sie über Bankkredite, die in Bangladesch mit 18 Prozent verzinst werden. Schicken sie den Auftrag rechtzeitig ab, wird die Zahlungsgarantie eingelöst, Kredite können abbezahlt werden, und ein Teil, meist weniger als fünf Prozent des Umsatzes, bleibt den Besitzern als Profit.
Vieles kann die Textilindustrie in Bangladesch stören: korrupte Beamte, verspätete Stofflieferungen, die häufigen Stromausfälle. Am meisten aber: Generalstreiks, die oft von politischen Parteien als Druckmittel genutzt werden. Seit Februar ist die Zahl solcher Streiks stark gestiegen. In den Fabriken wird zwar weitergearbeitet, doch können sie nicht beliefert werden. Und ihre Schiffsladungen werden auch nicht verschickt.
Der Besitzer fährt Bus, das Verkehrsmittel der Armen
Wer nicht rechtzeitig liefert, muss entweder erheblich teurere Luftfracht bezahlen oder nimmt Vertragsstrafen in Kauf. Entsprechend können die Einkünfte der Unternehmer schwanken: Im Jahr 2010 verdient New Wave Style nur 28.000 Euro, New Wave Bottoms 2011 nur 1.000 Euro.
Rahman und Samad haben sich keinen ausschweifenden Lebensstil geleistet. „Ich glaube, sie haben jeden Taka, den sie übrig hatten, reinvestiert“, sagt Rahmans Kindheitsfreund Ferdaus Parves. Etwa in die neue Fabriketage auf dem achten Stockwerk. Während viele Fabrikbesitzer Villen in den teureren Gegenden der Hauptstadt besitzen, mit Swimming-Pools und Luxusautos, wohnt Rahman mit seiner Frau und zwei Kindern in einer Mittelschichtsgegend am nördlichen Rand der Stadt. Wenn sein Chauffeur die Kinder mit dem Auto zur Schule bringt, fährt er oft mit dem Bus, dem Verkehrsmittel der Armen.
Am Tag des Unglücks wollen viele der Arbeiterinnen das Rana Plaza nicht betreten. Es hat sich herumgesprochen, dass das Gebäude unsicher sein könnte. Sie haben Angst, dass etwas Ernstes passiert. Um 7.45 Uhr steht Akhi mit mehreren Dutzend Frauen vor dem Hintereingang des Gebäudes. Als die Beschwichtigungsversuche der Vorarbeiter fehlschlagen, werden sie beschimpft. „Zahlen etwa eure Väter die Löhne, ihr Schwesterficker?!?“, brüllt einer. Akhi und einige andere Frauen bekommen Angst und gehen hinein. Andere berichten, wie sie am Nacken gepackt und ins Gebäude geführt wurden. Wer einmal drin ist, darf nicht mehr gehen.
Es scheint, als habe niemand die Gefahr erkannt. „Nichts hätte mich in die Fabrik zwingen können, wenn ich das gewusst hätte“, erzählt später eine Arbeiterin. Auch die Vorarbeiter sind erschienen, die Fabrikbesitzer befinden sich gerade auf dem Weg ins Büro. Um 8 beginnt die Schicht, doch kurz darauf fällt der Strom aus. Wie an anderen Tagen auch werden die Generatoren angeschmissen. Als sie zu vibrieren anfangen, beginnt die Säule neben Akhis Nähmaschine noch mehr zu bröckeln. Und dann gibt sie irgendwann nach. „Es war, als würde der Boden unter einem verschwinden“, erinnert sich Akhi.
Das Rana Plaza begräbt Mahmudur Rahmans gesamtes wackliges Geschäft unter sich: festes Kapital in Form von Maschinen und laufendes Kapital in Form unerfüllter Aufträge.
Kredite müssen zurückgezahlt werden, die Löhne der Arbeiter müssen bezahlt werden und eigentlich auch Entschädigungen an Schwerverletzte und die Hinterbliebenen von toten Arbeitern. Millionenbeträge.
Mag sein, dass Mahmudur Rahman daran denkt, als er den Geschäftsfreund anruft. Vielleicht auch an die Toten, die unter den Trümmern liegen.
Gegen Mittag können sich Akhi, eine weitere Näherin und drei Männer aus der Qualitätssicherung selbst befreien.
Die Leiche ihres Vorarbeiters ist auch Wochen nach dem Einsturz des Rana Plaza noch nicht aufgetaucht.
Zwei Tage nach dem Unglück stellen sich Mahmudur Rahman und Bazlus Samad der Polizei. Sie warten jetzt auf ihren Prozess.
■ Lalon Sander, 27, ist Redakteur bei taz.de