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Archiv-Artikel

„… dann sind wir alle weg“

INTERVIEW STEFAN REINECKE UND ULRIKE WINKELMANN

taz: Herr Heil, Vizekanzler Franz Müntefering hat gesagt, die SPD solle nicht Betriebsrat der Nation sein. Was denn eigentlich dann?

Hubertus Heil: Die SPD ist Motor der sozialen Erneuerung des Landes und beschränkt sich nicht darauf, all die üblen Sachen zu verhindern, die die CDU im Wahlkampf angekündigt hat.

In der öffentlichen Wahrnehmung ist jetzt aber die Kanzlerin Angela Merkel die nette Sozialdemokratin, während Müntefering die Grausamkeiten verkündet. Mit dieser Arbeitsteilung können Sie als SPD-Generalsekretär doch nicht glücklich sein.

Ich bezweifle, dass dieser Eindruck stimmt. Erst einmal wäre es nicht schlecht, wenn Frau Merkel gemerkt hätte, dass sie mit dem Westerwelle-Merz-Politikmodell aus dem Wahlkampf nicht durchdringt. Dann muss sie aber auch bereit sein, diese Haltung in konkrete Politik umzusetzen. Das sehe ich noch nicht. Und was uns Sozialdemokraten angeht, machen wir beispielsweise Druck für existenzsichernde Löhne in Deutschland. Auf europäischer Ebene haben wir mit der sozialen Ausgestaltung der EU-Dienstleistungsrichtlinie ein Umwelt- und Sozialdumping verhindert. Gegen Lohndumping brauchen wir jetzt gesetzliche Mindestlöhne.

Wie will die SPD denn mit dem Mindestlohn punkten?

Bereits heute beziehen 2,5 Millionen Menschen in Deutschland Armutslöhne. 2,50 Euro Stundenlohn, wie sie Wachmännern im Osten gezahlt werden, sind eine Unverschämtheit. Sozial ist nur die Arbeit, von der Menschen auch leben können.

Und welcher Lohn ist keine Unverschämtheit? 4,50 Euro? Die Linksfraktion schlägt 8 Euro vor, Ver.di dürfte bei 7,50 Euro einsteigen.

Darüber muss diskutiert werden. Franz Müntefering wird dazu im Herbst konkrete Vorschläge machen.

Sie haben für die große Koalition das Bild vom Sonnendeck verwendet, von dem herab die CDU winkt, während die SPD im Maschinenraum arbeitet. Wie fühlt man sich denn da unten?

Es ist ganz schön warm, man schwitzt, aber wir wissen, dass im Maschinenraum der Motor ist.

Und wenn das Schiff untergeht, ertrinken Sie zuerst.

Wenn das Schiff sinkt, dann sind alle weg. Wenn diese Koalition scheitert, dann nehmen nicht nur SPD und Union Schaden, sondern dann leidet die gesamte politische Kultur.

Bislang leidet aber die SPD: Laut Umfragen waren im Dezember 37 Prozent der Bevölkerung überzeugt, dass die SPD sich in der großen Koalition besonders für soziale Gerechtigkeit einsetzt. Jetzt sind es noch 25 Prozent.

Es geht nicht um Umfragen, sondern um Wahlen. Die nächste Bundestagswahl ist 2009. Dann wollen wir wieder stärkste Partei sein und den Kanzler stellen. Das ist noch eine lange Strecke. Bis dahin arbeiten wir am gemeinsamen Erfolg der großen Koalition.

Es stehen Landtagswahlen an. Und die SPD steht in den Umfragen nicht gut da. Warum?

Widerspruch! Wir stehen in Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt wirklich gut da. Und in Baden-Württemberg liegt Ute Vogt im direkten Vergleich nur wenige Punkte hinter Ministerpräsident Oettinger. Ich wette mit Ihnen, dass wir Ende März gestärkt aus den Landtagswahlen herauskommen. In Sachsen-Anhalt werden wir wieder an die Regierung kommen …

An eine rot-rote Regierung?

Das ist Entscheidung des Landesverbandes dort. Da wird die Bundespartei nicht reinreden. Jens Bullerjahn, unser Spitzenkandidat, hat aber schon deutlich gemacht, dass er die dortige PDS zurzeit nicht für regierungsfähig hält.

Das Vorziehen der Rente mit 67 war doch symptomatisch. Müntefering gibt den Bösen, weil er weiß, dass die SPD in einer großen Koalition auch nicht mehr Soziales zu bieten hat als in den vergangenen sieben Jahren, und weil er eh bald ausscheidet.

Sie haben aber eine böse Sicht auf Sozialdemokraten. Ich teile Ihre Einschätzung nicht. Bei der Ankündigung der Rente mit 67 gab es anfangs Koordinierungsprobleme. Mehr nicht.

Erst die Rente mit 67 verkünden und sich später darum kümmern, ob es auch Jobs gibt – ist das nur ein Koordinierungsproblem?

Wir können uns nicht darauf beschränken, nur die netten Botschaften der Koalition zu transportieren. Wir drücken uns nicht vor schwierigen Aufgaben. Wir werden den veränderten Altersaufbau nicht ignorieren. Darum brauchen wir die Rente mit 67. Das Renteneintrittsalter wird schrittweise bis 2029 auf 67 erhöht. Aber diese Entscheidung wird nicht isoliert betrachtet. Zur Rente mit 67 gehört, dass wir uns um die Jobchancen der Älteren kümmern, und deshalb wird Franz Müntefering das Programm „50 plus“ vorlegen. Mit den Tarifparteien wird man über Weiterbildung reden. Die Unternehmen werden lernen, dass sich ihr Jugendkult betriebswirtschaftlich nicht mehr rechnen wird. Und schließlich muss es Ausnahmen für Leute geben, die gesundheitlich schlicht nicht bis 67 arbeiten können. Hier kann das Thema Erwerbsminderungsrente auch noch eine Rolle spielen.

Es bleibt beim Problem, dass Müntefering jetzt den Kurs Gerhard Schröders fortsetzt, indem er Reformen ankündigt, die nicht sozialdemokratisch sind. Damit hat Gerhard Schröder schon die Zahl der Parteimitglieder unter 600.000 gedrückt und die Partei programmatisch ausbluten lassen.

Das Verdienst von Gerd Schröder ist, klar gemacht zu haben, dass Sozialdemokraten sich nicht vor Realitäten flüchten. Aufgabe der Partei ist es, Ziele und Richtlinien vorzugeben. Es gilt, diese im Regierungshandeln und in der Arbeit der SPD-Bundestagsfraktion durchzusetzen. Wir müssen jetzt für ein neues Grundsatzprogramm über Perspektiven diskutieren, die über die praktische Politik in der großen Koalition hinausgehen. Dabei werden wir uns als linke Volkspartei der Mitte positionieren können und zeigen, dass wirtschaftliche Dynamik und soziale Gerechtigkeit sich gegenseitig bedingen. Ende April beginnt die Programmdebatte mit einem deutlichen Aufschlag von Parteichef Matthias Platzeck.

Solche provozierenden Aufschläge hatten wir jetzt schon ein paar Mal – ohne Ergebnis. Die Programmdebatte der SPD wirkt wie die hässliche riesengroße Vase, die keiner im Haus aufstellen will.

Das ist Ihre Betrachtungsweise, nicht meine. Wir werden uns programmatisch erneuern. Unsere Werte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität bleiben. Aufgabe der Programmdiskussion ist es, Orientierung und Perspektiven zu geben, wie diese Werte angesichts fundamental veränderter Bedingungen stärker zur Geltung gebracht werden können. Viele Menschen sind zu Veränderungen bereit. Sie wollen aber wissen, wofür und warum. Das zu beantworten, ist Aufgabe der Programmdebatte. Im Gegensatz zur PDS werden wir Realitäten nicht ignorieren, und im Gegensatz zu den Wirtschaftsradikalen werden wir uns mit sozialer Spaltung nicht abfinden.

Die SPD-Theoriedebatten der vergangenen Jahre handelten vor allem davon, für die Agenda 2010 Verteilungsgerechtigkeit als Konzept von gestern zu denunzieren und durch Teilhabegerechtigkeit zu ersetzen.

Der künstliche Gegensatz von Verteilungsgerechtigkeit und Chancengerechtigkeit leuchtet mir nicht ein. Natürlich bedingt beides einander. Aber es muss eben auch klar sein, dass Armut nicht nur materielle Armut ist, sondern auch Bildungsarmut, die es zu verhindern gilt, um materielle Armut gar nicht erst entstehen zu lassen. Es geht gerade beim Thema Bildung um die gerechte Verteilung von Lebenschancen.