: „Sicherheit: ein leerer Wert“
Matthias Rieger forscht über den Wandel des Sicherheitsbegriffs. Die taz sprach mit ihm über das Bedürfnis nach und die Bedeutung von Sicherheit in Zeiten von Vogelgrippe und Sozialabbau
taz: Angesichts der Berichte und Reaktionen auf die Vogelgrippe fragt man sich, ob es bloße Angst ist, vielleicht auch Freude an der Angst oder das Aufschrecken aus einer Sicherheit, die man für ein selbstverständliches Bürgerrecht hält?
Matthias Rieger: Ich glaube nicht, dass es sich da um die Freude am Schrecken handelt, sondern dass es eine eigenartige, in dieser Ausprägung wohl neue Form der Angst ist. Das Auffällige ist ja, dass sie sich nicht auf die Gegenwart bezieht, sondern auf die Zukunft richtet: auf eine globale Seuche, die vielleicht irgendwann entstehen könnte.
Wobei man bei der Furcht vor terroristischen Anschlägen ja auch etwas fürchtet, was zumindest in Deutschland so noch nicht geschehen ist.
Aber in Bezug auf die Vogelgrippe geht es ja um die Mutation eines Virus, die es noch gar nicht gibt. Und die Frage, die sich mir stellt, ist die, warum bereits bestehende, reale Bedrohungen – zum Beispiel durch Atomkraft, durch Umweltgifte, durch genetische Manipulation oder Massenvernichtungswaffen – nicht genauso dramatisch diskutiert werden.
Und wie würden Sie diese Frage beantworten?
Die Astronomen warnen uns ja auch regelmäßig mit Katastrophen-Szenarien von abstürzenden Meteoriten und richten damit unsere Aufmerksamkeit auf eine irgendwie vorhergesagte, abstrakte Zukunft. Und lähmen so den Sinn für die konkrete Gegenwart.
Ein Problem, das ja dennoch zurzeit oft diskutiert wird, ist die Frage, wie viel Fürsorge der Staat übernehmen kann und muss.
Es ist keine Erfindung der Moderne, dass der Souverän und später der Staat Leben und Besitz seiner Bürger schützt. Neu ist aber seit dem 19. Jahrhundert ein umfassender Sicherheitsanspruch an den Staat: nämlich nicht nur die Sicherheit von Leib und Leben zu gewähren, sondern auch Absicherung gegen Krankheit, sozialen Abstieg, Armut oder, anders gesagt, gegen die neuen Existenzrisiken des Marktes. Diese Absicherung wird heute jedoch immer brüchiger. Der Sozialstaat wird ja gerade abgebaut, und das Gesundheitswesen ist immer weniger finanzierbar.
Wobei man das Gefühl hat, dass nach wie vor viele Menschen an dieser Illusion umfassender Sicherheit festhalten, wenn nicht sie gar einfordern.
Der Soziologe Zygmunt Baumann argumentiert, dass sich heute der Staat nur noch dadurch legitimieren kann, dass er seine Bürger schützt. Politisch habe er keine Macht mehr. Die sei vom Staat auf die großen Konzerne übergegangen. Daher verbleibe dem Staat nur noch die Aufgabe, Sicherheit zu garantieren, sei es vor Angriffen von außen, von innen durch Kriminalität oder jetzt vor möglicherweise bedrohlichen Viren. Mir scheint auch, je mehr die konkreten sozialen und ökonomischen Sicherheiten abgebaut werden, desto mehr rücken so abstrakte Bedrohungen wie Terrorismus und Vogelgrippe in den Vordergrund, weil hier der Staat noch suggerieren kann: Ich schütze meine Bürger.
Ist es nicht ein Teufelskreis, dass in Zeiten der Unsicherheit das Schutzbedürfnis immer größer, zugleich aber nicht erfüllbar wird?
Ja, das ist eine paradoxe Situation. Aber reale Unsicherheiten und erzeugte Sicherheitsbedürfnisse können ja sehr auseinander klaffen. Die Anzahl schwerer Gewaltverbrechen ist in Deutschland ja eher zurückgegangen, trotzdem, vor allem durch die Medien, fühlen sich heute viel mehr Menschen durch Mord und Totschlag bedroht.
Zugleich hat das irreale Gefühl der Bedrohung sehr reale Folgen. In Bremen steigen – wie insgesamt in Deutschland – die Zahlen psychiatrischer Zwangseinweisungen. Sind also die Gutachter bereits diesem Sicherheitsgedanken verpflichtet?
Sicherheit ist, übrigens ähnlich wie Gesundheit, ein leerer höchster Wert, das Wort hat vor allem appellativen Charakter. Im Namen von Gesundheit und Sicherheit lässt sich alles durchsetzten. Im Namen der Sicherheit schränkt der Staat die Grundrechte massiv ein und behauptet, dass er nur so seiner Aufgabe nachkommen kann, seine Bürger zu schützen. Das ist doch verrückt! Es wäre Zeit, eine Diskussion darüber anzuzetteln, ob wir uns weiterhin von abstrakten Bedrohungen lähmen lassen wollen oder doch lieber überlegen sollten, was hier und jetzt, also ganz konkret, gesellschaftlich wünschenswert wäre.
Interview: Friederike Gräff