berliner szenen Das Alphabet der Stadt

N wie Neukölln

Ein dunstiger Neuköllner Morgen. Im Norden des Bezirks sieht es aus, als ob Silvester erst gestern gewesen wäre. Aus einem offenen Fenster kommen Stimmen, die laut und auf Türkisch den eigenen Fernseher überschreien. Auch der Fernseher spricht türkisch. Auf dem Spielplatz an der Pflügerstraße ein einzelnes Kind, das sich stumm auf einen Lederball gehockt hat. Solitär im Frühstadium.

Vor dem Supermarkt am Kottbusser Damm stehen die dazugehörenden Punks samt Hunden. Kein Supermarkt ohne. Auch hier nicht. Die Hunde und die Punks sind relativ ruhig, es ist zu früh zum Reden oder Kläffen. Ein Punk mit Sicherheitskette am Portmonee. Ein anderer kommt aus dem Laden und wird gleich stürmisch begrüßt. Erst von seinem Hund, einem Mastino ohne Maulkorb, der aufreizend mit dem Hintern wackelt, dann von seiner Freundin. Der Punk freut sich ebenfalls und küsst erst den Hund, dann die Freundin. Das Geräusch ist dasselbe: Es hört sich an, wie wenn man mit Turnschuhen auf nasser Fahrbahn läuft. Ein süßes, knackiges „Kmietsch! Kmietsch!“

An der Bushaltestelle am Hermannplatz machen zwei Mädchen mit Kopftuch vor, wie Frieren geht: mit den Beinen schlackern; militärisch die Schuhe aneinander stellen; oder mit den Händen in den Taschen plötzlich auf- und abhüpfen. Ein Passant schaut unter einem Regenschirm hervor, die Mädchen schauen derweil nach oben. Es regnet nicht. Stattdessen lugt die Sonne über eine Kante des Karstadthauses hervor. Langsam nimmt auch die Hektik zu. Die letzten verschlafenen Geschäfte machen auf, der Bus quält sich durch die Sonnenallee. Am U-Bahnhof fahren alle Rolltreppen in die falsche Richtung.

RENÉ HAMANN