: Ein bisschen Hoffnung für Anita
FLÜCHTLINGSPOLITIK Eine Frist für die freiwillige Ausreise nach Serbien hatte der Landkreis Goslar dem schwer herzkranken Roma-Mädchen und ihrer Familie schon gesetzt. Nur nach dem Protest von Flüchtlingsinitiativen wurde die am Mittwoch vorerst ausgesetzt
■ Als die meist diskriminierte Bevölkerungsgruppe gelten Roma laut der Organisation Pro Asyl in Serbien – sowohl was ihren Alltag, den Zugang zu Arbeitsmarkt, Bildung und Ausbildung oder zur Gesundheitsversorgung angeht.
■ Etwa 60 Prozent der rund 450.000 Roma in Serbien leben nach Angaben von Pro Asyl in unsicheren und unhygienischen Verhältnissen.
■ 30 Prozent haben keinen Zugang zu Wasser und 70 Prozent keinen Zugang zur Kanalisation.
■ Die Kindersterblichkeit ist laut einer Studie von Unicef bei Roma-Kindern viermal so hoch wie der Landesschnitt in Serbien.
VON TERESA HAVLICEK
Auf Druck von Flüchtlingsinitiativen hat die Ausländerbehörde des Landkreises Goslar in Absprache mit Niedersachsens Innenministerium am Mittwoch die Abschiebung des schwerkranken Roma-Mädchens Anita Memisevic und ihrer Familie aus Clausthal-Zellerfeld nach Serbien vorerst zurückgestellt.
Eben das hatte der Goslarer Verein „Leben in der Fremde“ zuvor in einem Brief an Ministerpräsident Stephan Weil und seinen Innenminister Boris Pistorius (beide SPD) gefordert. Die Frist für die freiwillige Ausreise bis Ende Juli, die die Goslarer Ausländerbehörde der Achtjährigen, ihren vier Schwestern, den Eltern und ihrer Großmutter gesetzt hatte, ist nach Angaben von Unterstützern damit ausgesetzt.
Das Mädchen brauche „weiterhin Schutz und medizinische Begleitung in Deutschland“, heißt es in dem Schreiben des Mediziners Till Liebau von „Leben in der Fremde“. Anita leidet seit ihrer Geburt an einem inoperablen Herzfehler. Infekte und höheres Fieber können für sie lebensbedrohlich werden.
Sie müsse „stressfrei leben und reichhaltig essen“ und regelmäßig ärztlich untersucht werden, sagt Susanne Ohse von „Leben in der Fremde“. In Serbien aber sei das nicht möglich.
Anitas Erkrankung war einer der Gründe, warum die Familie 2010 nach Deutschland geflohen ist. 350 Kilometer weit vom nächsten Krankenhaus in Belgrad entfernt liegt der Herkunftsort der Memisevics in Serbien. In Notfällen eine schier unerreichbare Distanz. „Wir haben hier alle Möglichkeiten, Anita am Leben zu halten“, sagt Ohse, „wir wollen nicht, dass sie in Serbien untergeht.“
Schon 2012 hatte die Familie bei der Härtefallkommission des niedersächsischen Innenministeriums ein Ersuchen eingereicht, nachdem ein Asylantrag samt Folgeantrag abgelehnt worden waren. Unter Ex-Innenminister Uwe Schünemann (CDU) aber nahm das Gremium, das über ein Bleiberecht für Ausländer entscheidet, bei denen der Rechtsweg ausgeschöpft ist, den Fall erst gar nicht zur Beratung an. Begründung: Die Eltern waren mit Kaufhausdiebstählen straffällig geworden, der Vater zeitweise untergetaucht.
Die Hoffnungen der Unterstützer in die neue rot-grüne Landesregierung, die für einen Paradigmenwechsel in der Flüchtlingspolitik angetreten ist, hatten sich bis zum Eilentscheid am Mittwoch nicht bestätigt. Nach dem Regierungswechsel in Hannover stellte die Familie im Frühjahr auf Anraten der örtlichen SPD-Landtagsabgeordneten Petra Tiemann einen erneuten Härtefall-Antrag. Doch auch der wurde schon in der Vorprüfung abgelehnt. Am Sachverhalt habe sich nichts geändert, teilte die Kommission im Juli mit. Die Ausländerbehörde in Goslar setzte daraufhin die Ausreisefrist. Die Pässe der Familie behielt man vorsorglich ein.
Auch nach dem Aussetzen der Abschiebung durch Landkreis und Innenministerium traut Unterstützerin Ohse „dem Frieden nicht“, wie sie sagt. Begründet werde die Entscheidung nicht mit Anitas Gesundheitszustand, sondern mit dem der Mutter. Die ist derzeit wegen eines Nervenzusammenbruchs stationär in psychiatrischer Behandlung. Laut Ohse gilt der Aufschub der Behörden nur bis zur Genesung von Anitas Mutter.
Medizinische Einwände gegen eine Rückkehr Anitas nach Serbien gibt es zumindest auf dem Papier nicht mehr, wie die Unterstützer kritisieren. Ende 2012 hieß es zwar in einem Gutachten des Gesundheitsamts Salzgitter, eine Ausreise der heute Achtjährigen sei wegen der „geringeren medizinischen Versorgungs- und Förderstandards dort nicht empfehlenswert“. Nur Monate später ließ sich der Landkreis Goslar dennoch die Reisefähigkeit des Mädchens bescheinigen. Ein Göttinger Herzspezialist erklärte Anita für transportfähig – ohne sie gesehen zu haben.
Der niedersächsische Flüchtlingsrat fordert unterdessen Innenminister Pistorius auf, Landkreis und Ausländerbehörde anzuweisen, bis mindestens Ende August keine Abschiebung im Fall der Memisevics durchzusetzen. Dann tritt die von Rot-Grün initiierte Reform der Härtefallkommission in Kraft.
Bagatellstraftaten, wie sie Anitas Eltern bislang angelastet wurden, sollen dann kein Ausschlussgrund mehr sein, nur noch „besonders schwere Straftaten mit hohem Unrechtsgehalt“. Laut Flüchtlingsrat hat die Familie Memisevic mit dieser Reform eine dritte Chance auf einen Härtefallantrag – dieses Mal mit mehr Aussicht auf Erfolg, so die Hoffnung.