: Rimbaud im East Village
ROCK ’N’ ROLL Patti Smiths Memoirenbuch „Just Kids“ erzählt von einer jugendlichen Selbstfindung als Künstlerin. Es ist auch eine Hommage an früh verstorbene Freunde wie den Fotografen Robert Mapplethorpe
VON NINA APIN
New York in den Sechzigern. Eine zwanzigjährige Buchladenverkäuferin, eben aus der Provinz zugezogen und von Hunger geplagt, erhält eine Einladung zum Abendessen von einem wesentlich älteren Science-Fiction-Autor. Das Mädchen kann kaum essen, aus Angst, eine sexuelle Gegenleistung für ihren Schwertfisch erbringen zu müssen. Als der Mann „zum Kaffee“ in seine Wohnung bittet, erscheint ein gelockter Junge aus Brooklyn und rettet das Mädchen. Hand in Hand laufen sie davon, während über dem East Village die Sonne untergeht.
Kaum zu glauben, dass es sich bei dem jungen Ding in Bedrängnis um die legendäre Rockpoetin Patti Smith handelt. Diese Bohemienne in Lederjacke, die in den Siebzigern mit zur Gitarre herausgeschrienen Gedichten den New Yorker Underground erschütterte. Die mit androgyner Fransenfrisur und Attitüde die Punk-Ästhetik mit erfand. Die noch mit 63 Jahren auf der Bühne eine würdevollere Figur macht als der fast gleichaltrige Mick Jagger.
Ankunft in New York
Diese Frau war, das erzählt ihre jetzt auf Deutsch erscheinende Autobiografie, just a kid. Nur ein mageres Arbeiterkind aus New Jersey mit großen Plänen und ohne Geld, gestrandet im East Village. „Just Kids“ konzentriert sich auf die Zeit zwischen Patti Smiths Ankunft in New York 1967 und dem Erscheinen ihrem Debütalbum „Horses“ 1975. Es ist eine Zeit, in der New York vor kreativer Aufbruchstimmung vibriert. Beatpoeten, Gammler und Freaks formieren sich auf den Straßen, alle sind bereit – wofür auch immer. „Niemand erwartete mich. Alles wartete auf mich“, resümiert Patti Smith ihre Ankunft in der Stadt. Die acht folgenden Jahre voller Armut, Hunger und Selbstzweifel sind ein kurzer, aber für die Künstlerin offenbar bis heute bestimmender Lebensabschnitt.
In dieser Zeit gewinnt sie ihren wichtigsten Verbündeten, den späteren Fotograf Robert Mapplethorpe. Der gleichaltrige Junge, der als Retter in ihr Leben tritt, wird für Patti Smith Geliebter, Seelenverwandter und ein Spiegel ihrer eigenen kreativen Suchbewegungen. Zusammen beziehen sie die erste schäbige Wohnung in Brooklyn, lernen Ende der 60er-Jahre William S. Burroughs und Janis Joplin kennen, ziehen ins Chelsea Hotel, arbeiten sich in den Inner Circle um Andy Warhol vor.
Auch als Robert Mapplethorpe seine Homosexualität entdeckt und in der SM-Szene auslebt, bleibt die Beziehung zwischen beiden eng. „Niemand sieht, wie wir sehen, Patti“ – mit dieser Formel beschwört Mapplethorpe immer wieder Smiths Loyalität. „Just Kids“ ist die Einlösung eines letzten Versprechens, das Smith dem Künstler vor seinem Aids-Tod 1989 gab: Ihre gemeinsame Geschichte zu veröffentlichen. Zumindest bildet dieses Versprechen, ebenso wie Mapplethorpes Tod, die Klammer für Smiths Erzählung.
Das Buch gewährt nicht nur Einblicke in zwei parallel verlaufende Künstlerkarrieren. Es zeigt auch die konventionellen Seiten der Patti Smith. Man begegnet einer Frau, die ihre Heiligenbilder und Schatzkästchen in Ehren hält. Die für Kennedy und Janis Joplin betet. Regelmäßig ihre Familie besucht. Und eine geplante Reise nach Äthiopien nicht antritt, weil Mapplethorpe und ihr Geliebter Sam Shepard sich zu sehr sorgen. Von Smiths ersten Erfolgen im Off-Theater, wilden Lyrikperformances im Punk-Club CBGB und ihrer Entdeckung durch die Plattenfirma Arista erfährt man nur am Rande.
Was für eine Sensation „Horses“ war, das erste von John Cale produzierte Album der Patti Smith Group, wie ihr auf „Easter“ mit dem Bruce-Springsteen-Song „Because The Night“ ein kommerzieller Erfolg gelang. Wie sie plötzlich 1980 ihre Karriere für die Familie beendete – all das bleibt in „Just Kids“ unerzählt. Vielleicht aus Bescheidenheit, wahrscheinlicher aber aus Gründen der Imagebildung.
Die Ikone als ganz normale Frau – das Buch schreibt fort, was schon in der filmischen Langzeitstudie „Dream of Life“ von Steven Sebring (2008) durchklang. Die auf der Bühne wüst und unnahbar wirkende Performerin ist im Alltag eine sensible, durch Schicksalsschläge melancholisch gewordene Frau. Vor Sebrings Schmalfilmkamera zeigt sich Smith als Mutter, Witwe, Familienmensch. In ihrem ewigen schwarzweißen Herrenoutfit streift sie durch die Flure des Chelsea Hotel, auf den Spuren alter Weggefährten. Alle ihre Männer sind tot, innerhalb weniger Jahre weggestorben: Robert Mapplethorpe, ihr Bruder Todd, der Keyboarder Richard Sohl und der Ehemann Fred „Sonic“ Smith, EX-MC5-Gitarrist, mit dem sie in Detroit 16 Jahre lang eine bürgerliche Familienexistenz führte. Smith trauert, sie ist umgeben mit Memorabilia: der Asche ihres Bruders, Robert Mapplethorpes Tambourin.
Aber die Künstlerin macht weiter. Eins ihrer größten Vorbilder holt sie zurück ins Rampenlicht. Patti Smith geht zusammen mit Bob Dylan auf Tour und veröffentlicht 1996 das Album „Come Again“. Seither erscheinen in loser Folge Alben, zuletzt „12“ mit Coverversionen bekannter Rocksongs. 2007 wurde sie in die Rock-’n’-Roll-Hall-of-Fame aufgenommen, der autobiografische Film „Dream of Life“ wurde 2008 auf der Berlinale gezeigt. Patti Smith ist eine lebende Legende, ihr Einfluss auf jüngere MusikerInnen von Sonic Youth bis Tori Amos unbestritten.
Mit „Just Kids“ arbeitet die Musikerin und Dichterin nun an der literarischen Selbstdeutung ihrer Karriere. „Just Kids“ ist wie alle Autobiografien der Versuch, sich zu erklären, bevor andere es tun. Smith zeigt, wie sie sich sieht: ein Mädchen aus dem Volk, das der Geist des Rock‘n Roll berührt hat. Und das es unter schwierigen Umständen nach oben geschafft hat. 1975 hat sie dem Fabrikjob, den sie 16-jährig nach der Schule annahm, das zornige Poem „Piss Factory“ gewidmet: „I’m gonna be somebody, I’m gonna get on that train, go to New York City, I’m gonna be so bad I’m gonna be a big star and I will never return, Never return, no, never return, to burn out in this piss factory. And I will travel light. Oh, watch me now.“
Zunächst wird aus den Fluchtplänen nichts: Die Arbeitertochter aus New Jersey wird mit 19 schwanger, bricht die Highschool ab und gibt ihr erstes Baby zur Adoption frei. Dem Kind, das sie nie kennenlernen wird, schwört sie, etwas aus sich zu machen. Ihrer Familie bleibt sie auch eng verbunden, als sie längst in der New Yorker Künstlerszene reüssiert.
Kind der Siebziger
Mit Schwester Linda reist sie nach Paris, die Eltern besuchen ihre Shows. Ihrer Mutter, die ihr zum Geburtstag William Blakes „Songs of Innocence“ schenkt, verdankt sie eine lebenslange Begeisterung für den englischen Dichter, zu der sich bald Verehrung für Arthur Rimbaud gesellt, den größten Trost ihrer Teenagerzeit, wie sie sagt. Die Familienfahrt ins Museum of Modern Art in Philadelphia schließlich löst bei der jungen Patti ein ähnliches Erweckungserlebnis aus wie der Besuch eines Doors-Konzerts fünfzehn Jahre später. Nur dass sie nicht mehr davon träumt, die Muse eines Künstlers zu werden. Sondern denkt: „Das kann ich auch.“
In Patti Smiths Universum mischen sich der unerschütterliche Glauben an das eigene Talent und grenzenlose Bewunderung für andere. Rock ’n’ Roll trifft Kunstgeschichte, Jim Morrisson trifft Gott. Smith, die früher ihre Konzerte mit den Worten zu eröffnen pflegte, „Jesus Christ died for somebody’s sins, but not mine“, ist gläubig. Allerdings nicht im herkömmlichen Sinn. Als spirituelle Inspiration nutzt sie katholische Rituale ebenso wie Tarotkarten oder die Versenkung in ein Odilon-Redon-Gemälde. Nicht nur darin ist sie ganz Kind der Siebziger. Bei ihren rar gewordenen öffentlichen Auftritten wirkt Patti Smith heute mit ihren Herrenhemden, den herben Zügen und der ergrauten Haarmähne wie eine eigene Spezies. Eine 63-jährige Frau, die raucht wie ein Schlot, kichert wie ein Schulmädchen und immer noch mit den Händen isst.
■ Patti Smith: „Just Kids. Die Geschichte einer Freundschaft“. Aus dem Amerikanischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann. Kiepenheuer & Witsch, Köln. 304 Seiten, 19,95 Euro. Erscheint am 18. März
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