: HVDT im Glashaus
Hartmann von der Tanns Kritik an der Doku-Praxis im ARD-Ersten ist zwar berechtigt. Nur war der Noch-Chefredakteur selbst dafür verantwortlich
von RAINER BRAUN
In der ARD-Zentrale in München gaben sich die leitenden Herren überrascht und auch verärgert. Das ist schon deshalb nachvollziehbar, weil es auch im Ersten nicht so gern gesehen wird, wenn der interne Schriftverkehr zwischen dem ARD-Chefredakteur Hartmann von der Tann und den zuständigen Ressortleitern des Senderverbunds per Süddeutsche-online abrufbar ist.
In der Sache aber wird die Kritik des ARD-Chefredakteurs am Zustand der Dokumentationen, Reihen und Mehrteiler von Programmdirektor Günter Struve weitgehend geteilt. Überraschend ist das wiederum schon deshalb nicht, weil von der Tann zwar die Qualität des ARD-Angebots für die Doku-Plätze im Ersten (Montag 21.00/Mittwoch 22.45) kritisiert, aber eigentlich die teilweise lamentablen Quoten meint. So ist die Doku am Montag von einem Marktanteil von 10,9 Prozent (2004) auf 10,0 Prozent (2005) gefallen, während der Mittwoch anhaltend einstellig (8,5 Prozent) blieb.
Bei Licht besehen aber ist der „Brandbrief“ von der Tanns (taz von gestern) fast so komisch wie makaber. Denn hier kritisiert einer so wortreich wie larmoyant („sogar dem Koordinator“ sind „gelegentlich fatale und zumindest in der Rückschau vermeidbare Irrtümer unterlaufen“) Fehlentwicklungen im Ersten, die nicht zuletzt vor allem er selbst zu verantworten hat.
Schließlich ist der 62-Jährige mit dem besonderen Faible für Ross und Reiter („Das Pferd ist der beste Freund des Menschen“) seit 1. April 1993 als Chefredakteur und Koordinator für Politik und Gesellschaft in der ARD verantwortlich. Daher verbinden sich auch einige Hoffnungen mit seinem Nachfolger Thomas Baumann („Bericht aus Berlin“), der am 1. Juli von der Tann beerbt.
Jetzt bleibt ein mehr als bitterer Nachgeschmack. Fraglos ist richtig, dass der Sendeplatz am Montag an Profillosigkeit leidet. Schwer von der Hand zu weisen ist auch, dass die übrigen Chefredakteure und Kulturchefs im Ersten kein schärferes Profil wollten, da sie dies in der Themensetzung zu sehr einengen würde. Und richtig ist auch, dass manche Dokus und Reportagen unterfinanziert sind.
Aber es war eben auch von der Tann, unter dessen Ägide etwa die herausragende HR-Reihe „Das rote Quadrat“ keine Zukunft mehr hatte und exzellente Dokumentationen der Länderanstalten vom Ersten ausgeschlossen blieben. Stephan Lambys Porträt über Stefan Aust zählte dazu wie Wilfried Huismanns bissiger Beitrag zu Henry Kissinger oder zuletzt der für einen Grimme-Preis nominierte Film „Why we fight“. Alle Produktionen waren nur im WDR-Fernsehen zu besichtigen.
Der Quotenfetischismus führte außerdem dazu, dass brisante Themen im Ersten zunehmend nur noch zur Geisterstunde zu sehen sind. Hubert Seipelts Grimme-nominierte Doku „Und du bist raus“ über das Gebaren von Finanzinvestoren zählt dazu oder „Tod in der Zelle“, über den Tod eines Asylbewerbers im Polizeigewahrsam.
Zur besseren Sendezeit gab es dafür – wie etwa ausgerechnet an Weihnachten – den MDR-Vierteiler „Die Mätressen“ (Foto), der inhaltlich grenzwertig, aber schon aufgrund seiner prominenten Besetzung kaum als Low-Budget-Produktion angesehen werden durfte.
Insofern ist auch von der Tanns Plädoyer für mehr Einzelstücke nur konsequent. Komisch bleibt nur, dass es der Chefredakteur selbst war, der qualitätsorientierte Features und Einzelstücke in jüngerer Vergangenheit gerne zugunsten traditioneller Mehrteiler wie „Die großen Kriminalfälle“ opferte. Der Befund als solcher ist also nicht neu: Hier sitzt einer im Glashaus, der mit Steinen wirft.