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Archiv-Artikel

Fortschritte und Probleme bei der Zivilisierung

EUROPA Jürgen Habermas legt den zwölften – und wohl letzten – Band seiner „Kleinen politischen Schriften“ vor. Ein Plädoyer für die supranationale Demokratie und eine Warnung vor der Umdeutung sozialer in nationale Fragen

VON RUDOLF WALTHER

Was Jürgen Habermas – außer seiner immensen Produktivität – auszeichnet, ist seine rigorose Trennung zwischen der Arbeit des Wissenschaftlers und Professors und seiner Funktion als politisch intervenierender Intellektueller. Dieser Arbeitsteilung verdankt sich auch die Reihe seiner „Kleinen politischen Schriften“, deren erster Band 1981 erschien. Als Intellektueller sieht sich Habermas der „Praxis öffentlicher Belästigung“ verpflichtet, womit er nicht Hilfsarbeit für bestimmte politische Ziele oder Parteien meint, sondern „argumentative Beihilfe zum fortlaufenden Prozess der öffentlichen Meinungsbildung“.

Habermas’ politische Schriften reagieren auf die Aktualität. Im zwölften Band bilden diesen politischen Schwerpunkt „die europäischen Dinge“, die ihn seit über 20 Jahren beschäftigen. Von den zwölf Texten handelt die Hälfte von „europäischen Zuständen“ und dem Problem der fortschreitenden Aushöhlung der Demokratie durch ein technokratisches Regime unter dem Etikett „Governance“.

Eingerahmt werden diese Beiträge von drei Vorträgen zum Verhältnis von Juden und Deutschen, ein Thema, „das den empfindlichsten Nerv unseres politischen Selbstverständnisses berührt“. Die Texte handeln von Martin Buber, Heinrich Heine und – an erster Stelle – von jüdischen Philosophen und Soziologen, die nach 1945 in die Bundesrepublik zurückkehrten. In diesem Beitrag berichtet Habermas über seine eigene Bildungsgeschichte als Student und junger Wissenschaftler in der von Kaltem Krieg und Adenauer-Mief verbiesterten Atmosphäre.

Er erinnert nicht nur an die bekannten Rückkehrer von Karl Löwith, Helmuth Plessner bis zu Adorno und Horkheimer, sondern auch an akademische Außenseiter wie Alfred Sohn-Rethel, Ulrich Sonnemann und Günther Anders. Auch die Liste der im Exil verbliebenen oder verstorbenen jüdischen Philosophen ist lang und reicht von Wittgenstein und Benjamin bis zu Hannah Arendt und Leo Strauss.

Habermas erlebte selbst den ersten Auftritt Adornos auf dem Deutschen Kongress für Philosophie 1962. Adornos Vortragsstil und seine Sprache riefen „Irritationen“ hervor, die Distanz und „Fremdheit“ markierten. Diese wurde noch verstärkt, als sich Adorno für den Beifall bedankte und dabei verbeugte „wie der Virtuose vor seinem Publikum – eine Nuance zu tief“ für das steife akademische Ritual. Habermas’ Fazit: „Die politische Kultur der alten Bundesrepublik“ verdankt „ihre zögerlichen Fortschritte in der Zivilisierung ihrer Einstellungsmuster zu einem guten, vielleicht ausschlaggebenden Teil jüdischen Emigranten.“

Die Beiträge zu Europa stehen im Bann der seit 2007/08 herrschenden Wirtschafts-, Währungs- und Schuldenkrise, also der „Erpressung der Euro-Staaten durch die Finanzmärkte“ und des technokratischen Krisenregiments der Troika aus Europäischem Rat, Brüsseler Kommission und EZB. Diesem Krisenmanagement fehlt es an demokratischer Legitimität und politischer Perspektive.

Habermas plädiert für eine „Erweiterung der Wir-Perspektive vom Staatsbürger zum europäischen Bürger“ und eine „Verschiebung der Gewichte zwischen Politik und Markt“ zugunsten von mehr Demokratie und mehr Europa, um den Praktiken „neoliberaler Selbstentmächtigung“ ein Ende zu bereiten. Politisch verstandene Solidarität der reichen EU-Staaten mit den armen Ländern des Südens ist keine moralisierende Forderung, sondern eine Konsequenz aus der „normativen Verpflichtung“ (Claus Offe) des Exportweltmeisters, der noch von der Krise profitierte.

Habermas geriert sich weder als EU-Prophet noch als „Realpolitiker“, der sich in „zynischem Defaitismus“ einrichtet, sondern sieht in der Entthronung des Europäischen Rates und in der Errichtung einer „politischen Union“ auf der Basis einer supranationalen Demokratie eine Chance. Darin unterscheidet er sich von der Diagnose des Soziologen Wolfgang Streeck in seinem erfolgreichem Buch „Gekaufte Zeit“. Streeck verabschiedet sich von der EU und vom Euro und plädiert für eine Rückkehr zu mehr nationalstaatlicher Souveränität. Habermas sieht darin einen historischen Fehler, den linke Parteien 1914 machten: Aus Angst, von den Nationalisten als „vaterlandslose Gesellen“ verunglimpft zu werden, marschierten sie mit – in den Krieg. Mit starken Argumenten warnt Habermas vor einer „Umfälschung von sozialen in nationale Fragen“ mit den Rosstäuscherparolen „Nation“ und „Identität“.

Nach der Lektüre betrübt nur eines: Der 84-jährige Habermas kündigt an, der zwölfte sei der „voraussichtlich letzte Band.“

Jürgen Habermas: „Im Sog der Technokratie. Kleine politische Schriften XII“. Suhrkamp, Berlin 2013, 194 Seiten, 12 Euro