in fußballland : Die Sportschau als Gerichtsshow
CHRISTOPH BIERMANN über strittige Situationen, eine lange Leitung und das Aufspüren unnatürlicher Bewegungen in der verlangsamten Wiederholung
Vor einigen Wochen verschlug es mich auf der Werbetour für ein Buch, das ich geschrieben habe, in eine sonntägliche Fernsehsendung, bei der im Zeichen des Bieres über Fußball diskutiert wird. Gesendet wird aus einem Hotel im Flughafen, wo fliegende Kameras aufgestellt sind und Leute gerne klatschen, wenn einer klare Sätze spricht. Bei mir klatschte niemand, was aber nicht so schlimm war, weil es mir erst hinterher auffiel.
Überhaupt hatte ich an jenem Tag eine lange Leitung, denn im Laufe der zwei Stunden diskutierten wir nicht nur über das Wohl und Wehe der deutschen Nationalmannschaft und wo ihr Trainer leben soll sowie die Wechselfälle der Bundesliga, sondern immer wieder auch über so genannte „strittige Situationen“ vom vorangegangenen Bundesligaspieltag.
Vor und zurück wurden die Bilder gespielt, damit wir sehen und debattieren konnten, ob ein Spieler nun ins Abseits gelaufen war und sein Treffer mithin eigentlich hätte zurückgepfiffen werden müssen oder ob die Fahne nicht fälschlich gehoben worden war, weil es sich eben doch um kein Handspiel, Foul oder sonstigen Verstoß gegen das Regelwerk handelte. Während ich da so saß, schwante es mir schon, aber ich konnte es (lange Leitung!) nicht formulieren. Erst hinterher wurde mir klar, dass es mir schlichtweg egal war.
Fortan jedoch war ich höchst aufmerksam dem televisionären Fußballgerichtswesen gegenüber, denn offensichtlich gehen die Redakteure und Regisseure beim Fernsehen davon aus, dass die Zuschauer derlei von ihnen erwarten. Wie anders wäre der „Pfiff des Tages“ im Aktuellen Sportstudio des ZDF zu erklären, wo strittige Entscheidungen nochmal beäugt und beurteilt werden? Bei dieser Revision (ohne Folgen für alle Beteiligten) trillert eine animierte Schiedsrichterpfeife in Grün, wenn rechtens entschieden wurde; in Rot, wenn es nicht rechtens geschah.
Außerdem fiel mir auf, dass bei Liveübertragungen von Fußballspielen in Deutschland viel häufiger die verlangsamte Wiederholung vorgeführt wird als bei der aus anderen Ländern. Es bedient wohl ein spezifisch deutsches Interesse, selbst bei einem Einwurf oder Eckball noch einmal aus elf Kamerapositionen nachzuschauen, ob da nicht vielleicht Unrecht gesprochen wurde.
Ein geradezu erotisches Schauern überkommt manchen Reporter, wenn er bei der Exegese eines Handspiels im Strafraum von der „unnatürlichen Bewegung“ sprechen kann, die übrigens, das sei nicht verschwiegen, weder im offiziellen Regelwerk so genannt wird noch in den ergänzenden Ausführungen des Deutschen Fußball-Bundes oder jenen des International Football Association Board, das sich der Regelfragen traditionell annimmt.
Es ist unglaublich, welch großen Anteil das Betrachten und nachfolgende Besprechen von Schiedsrichterentscheidungen bei uns einnimmt. Mancher Spielbericht macht den Eindruck, als wäre er nur als Beweismappe für das Amtsgericht des Fußballwesens am heimischen Fernseher zusammengestellt. Nur was um Himmels willen soll dieser Unsinn? Sind Fußballsendungen in diesem Land getarnte Gerichtsshows für Leute, die keine Gerichtsshows gucken (oder für solche, die nicht genug davon bekommen können)? Ist also Reinhold Beckmann die Fußballversion von Richter Alexander Hold und Johannes B. Kerner jene von Richterin Barbara Salesch?
Steckt dahinter vielleicht sogar ein revolutionäres Begehr, wo doch das Rechtssystem des Fußballs auf der Unumstößlichkeit der „Tatsachenentscheidung“ beruht, die den richtenden Schiedsrichter in eine Position des Gottgleichen versetzen? Will sich der deutsche Fan dagegen erheben, oder will er sich nur auf die Seite der Mächtigen schlagen und zum Richter auf dem Sofa werden, selbst wenn der Satz „Hier sieht man, dass er doch Abseits war“ falsch bleibt, weil Abseits nur dann ist, wenn der Schiedsrichter pfeift?
Und was ist eigentlich falsch mit mir, dass ich irrige Schiedsrichterentscheidungen hinnehme wie einen holprigen Platz und schlechte Bälle? Ich werde das weiter verfolgen.
Fotohinweis: Christoph Biermann, 44, liebt Fußball und schreibt darüber.