: Die ganze Wut
ENGAGIERTE MUSIK Ist Neue Musik politisch relevant oder einfach nur schlecht? Das Festival „Relevante Musik“ fragte in der Villa Elisabeth nach der gesellschaftlichen und politischen Bedeutung von Musik
VON TIM CASPAR BOEHME
Die Neue Musik hat es schwer. Zunächst einmal will sie kaum jemand hören. Konzerte mit Pop oder herkömmlicher Klassik ziehen in der Regel deutlich mehr Menschen an. Doch damit nicht genug: Manche Kritiker sagen, dass die Neue Musik kaum Publikum findet, weil sie sich in ihren eigenen elitären Zirkel verpuppt hat, um einen überkommenen Avantgarde-Begriff aufrechtzuerhalten, der bloß noch Eingeweihte interessiere.
Zu Recht, befand der US-amerikanische Komponist Frederic Rzewski am Samstag in einer Diskussionsrunde auf dem Festival „Relevante Musik“ und setzte noch einen drauf: „Der Großteil der heutigen modernen Musik ist Scheiße, das wissen wir doch alle.“ Dabei wollte das Festival in der Villa Elisabeth und der Elisabethkirche eigentlich einen Ausweg aus der Bedeutungslosigkeit Neuer Musik weisen. Wie der Titel vollmundig verhieß, sollten Werke geboten werden, die nicht allein die Maßgabe erfüllen, „neu“ zu sein, man wollte sich ebenfalls ihrer „gesellschaftlichen und politischen Relevanz“ versichern. Matthias Osterwold, Moderator der Diskussion zum Thema „Avantgarde und/als Politik“, in der sich Rzewski so unmissverständlich positionierte, betonte hingegen die Ambivalenz des Begriffs der Relevanz und stellte klar, dass politisch motivierte Musik und relevante Musik nicht zwingend dasselbe sein müssen.
Ein Komponist wie Rzewskis Landsmann Bob Ostertag trennt sogar noch strenger: Obwohl er politisch aktiv sei und in erster Linie Musik über die Dinge mache, mit denen er zu tun habe, betrachte er seine Musik nicht als politisch in dem Sinne, dass sie eine Botschaft habe. Sein Streichquartett „All the Rage“, das am Freitag aufgeführt wurde, verwendet dokumentarische Aufnahmen von einem Protest gegen die Diskriminierung von Schwulen in San Francisco, an dem Ostertag teilnahm. Die Streicher entspinnen darin einen Dialog mit den Aufnahmen. Ostertag aber stellte klar: „Ich denke nicht, dass Leute, die ‚All the Rage‘ hören, Schwule hinterher mehr mögen werden.“
Ostertags Quartett zählte zu den Höhepunkten des Festivals, bei dem nicht alle Beispiele engagierter Musik gleich stark überzeugen wollten. So hat Rzewskis „Lost and Found“, in dem ein Schlagzeuger den Text eines Vietnam-Veteranen rezitiert und dabei den eigenen Körper als Perkussionsinstrument einsetzt, zwar eine beklemmende Wirkung, bleibt in seinem plakativen Gestus musikalisch jedoch eher unbefriedigend – selbst wenn mit Matthias Kaul ein versierter Interpret avantgardistischer Musik halbnackt auf der Bühne stand, um Tisch und Stühle umzuwerfen.
Wesentlich abstrakter, aber allemal relevant, da in vielfältiger Weise zum Denken anregend, präsentierte sich das Konzept des Labels „Care of Editions“, das seinen gesamten Schallplattenkatalog gleich als Installation aufgebaut hatte: Wer eine der Vinyl-Schallplatten des Hauses käuflich erwirbt, erzeugt damit ein Guthaben für Downloads. Auf der Website careof.co wiederum kann jeder – unabhängig vom Kauf einer Platte – eines der Alben herunterladen und bekommt dafür paradoxerweise Geld in Form eines Schecks nach Hause geschickt. Die Zahl der Downloads ist ebenso begrenzt wie die der Schallplatten.
Mit seinem Ansatz verhält sich Betreiber Gerhard Schultz bewusst konträr zu allen üblichen Geschäftsmodellen der Musikindustrie. Bis ins Letzte erklären kann der US-amerikanische Musiker auch nicht, warum er diesen Weg der Kritik am bestehenden System gewählt hat. Schultz zeigt sich überzeugt, dass die Zukunft der Musik digital sein wird: „Die Schallplatten sind für mich eine Möglichkeit, sich mit dieser Frage zu beschäftigen.“ Und die angebotenen Downloads sollen eben nicht einfach beliebig verfügbare Datenmasse sein, sondern als verknapptes Gut, für das es zusätzlich Geld gibt, eine besondere Wertschätzung erfahren.
Ebenfalls digital ging es bei dem „Soundwalk“ des Berliner Klangkünstlers Georg Klein zu. Seine „Toposonie::Spree“ lud zu einer individuellen Begehung des Regierungsviertels per Smartphone-App ein. Auf einer Berlin-Karte konnte man so verschiedene Klangfelder ansteuern, um dort halbdokumentarischen Collagen über die Kirchen-Lobby, die Arbeit des Bundespresseamts oder Jugend-Lobbyismus zu lauschen. Die Politik intervenierte am Samstag auf ihre Weise: Gut die Hälfte der Klangfelder blieben unzugänglich, da wegen der Gedenkveranstaltung zum 69. Jahrestag des Hitler-Attentats von 1944 das Gebiet zur Mittagszeit großflächig von der Polizei abgesperrt worden war. Das ist auch eine Form von Verknappung: unhörbare Kunst im nicht mehr öffentlichen Raum.