: Der Silberdrache erhebt sich im Zwielicht
FESTIVAL Bei der „Wassermusik“ begeisterten die kolumbianischen Meridian Brothers am Sonntag mit ihrer großartigen New-Wave-Version von Cumbia. Danach ließ das Shibusa Shirazu Orchestra seinen Drachen steigen
VON TIM CASPAR BOEHME
An manchen Tagen wollen die Götter einfach, dass alle Welt sich unter der Sonne versammelt, um den Schwingungen des Kosmos zu lauschen. Oder um es eine Nummer kleiner zu sagen: Sommerkonzerte wie die auf der Dachterrasse des Hauses der Kulturen der Welt können einem bei günstiger Witterung durch und durch erfreuliche Erlebnisse bescheren.
Im Programm der Wassermusik kam es an diesem Sonntag zu einer solchen euphorisierenden Begebenheit, an der die Formation Meridian Brothers aus Bogotá einen entscheidenden Anteil hatte.
Wie bei so vielen kolumbianischen Bands bildet die Cumbia die rhythmische Basis ihrer Musik. Dieser traditionelle Tanz mit seinen charakteristischen Gitarrenmelodien erlebt seit einiger Zeit eine Renaissance in elektronischer Form und scheint sich allmählich zum Reggae der Gegenwart zu entwickeln: Ähnlich wie die beliebte Musik aus Jamaika kann sich auch Cumbia praktisch jeden Song des Poprepertoires einverleiben.
Cumbia-Coverversionen beherrschen die Meridian Brothers allemal, in ihrem Ansatz nehmen sie jedoch eine Ausnahmestellung in der aktuellen Musik ihres Landes ein: Die Formation um den Gitarristen Eblis Álvarez arbeitet vornehmlich nach dem Verfremdungsprinzip. Herkömmliche Rhythmen werden durch fiepende Synthesizerklänge und psychedelisch leiernde Orgeln angereichert oder mit einem beherzten Rumpeln in die Irre gelockt. Am verwirrendsten ist allerdings der Gesang von Álvarez, dessen Stimme an diesem Abend ein Rätsel bleibt: Fast in jedem Song hört man ihn – elektronisch bearbeitet – in anderer Tonlage singen, nur wenige klingen natürlich.
Das kommt besonders schön in der Bearbeitung von Jimi Hendrix’ „Purple Haze“ zur Geltung. Über dem so gar nicht Rock-typisch schunkelnden Rhythmus singt Álvarez mit weiblich anmutendem hohen Quietschen auf Spanisch und entkleidet den Rockklassiker so noch der letzten Macho-Rudimente. Die Gitarrentöne darf ein Synthesizer säuseln. Man könnte fast meinen, hier habe die US-amerikanische New-Wave-Band Devo sich entschieden, Cumbia zu machen.
Das Geheimnis dieser ansteckend körperfreundlichen, hochintelligenten Musik ist die Kombination von entwaffnender Lockerheit mit einer psychedelisch-surreal verrutschten Klangarchitektur.
Dass Eblis Álvarez seine Kenntnisse in elektronischer Klangbearbeitung über mehrere Jahre am DIEM, dem dänischen Nationalen Kompetenzzentrum für Elektronische Musik in Aarhus, vertieft hat, macht sich insbesondere im wenig greifbaren Flirren der verschiedenen Klangebenen bemerkbar. Seiner Pop-Sensibilität hat die akademische Schulung hingegen kein bisschen geschadet. Das gilt auch für die im August beim Label Staubgold erscheinende Zusammenstellung „Devoción (Works 2005–2011)“, die einen hilfreichen Überblick zum Schaffen der Meridian Brothers bietet.
Im Verein mit der untergehenden, dabei immer noch kräftig wärmenden Abendsonne wurde der Auftritt von Álvarez und seinen vier Mitstreitern vor dem geschwungenen Dach der ehemaligen Kongresshalle zu einem dieser Momente, in denen man sich vom Rhythmus geerdet und zugleich schwer entrückt fühlen konnte. Manche mögen das mystisch nennen, andere sagen schlicht „super“.
Man hätte an diesem Punkt erfüllt seiner Wege gehen können. Doch dann hätte man den farbenfroh zusammengeklauten Irrsinn des Shibusa Shirazu Orchestra aus Tokio verpasst. Das Jazzkollektiv verbindet bei seinen Auftritten Musik, Buto-Tanz und Geishas mit choreografisch kreisenden Riesenbananen zum großen Familienspaß. Die Musik bedient sich bei Ska, Balkan-Beat, Progressive Rock und Schnulzen – es gibt mithin alles, was das Herz begehrt, und noch mehr. Ausgedehnte Gitarren- und Saxofonsoli dürfen nicht fehlen, und manche Stücke scheinen gar nicht mehr aufhören zu wollen.
Das ist in seiner größenwahnsinnigen Unbekümmertheit einerseits sehr amüsant, andererseits auf Dauer auch leicht ermüdend. Wäre da nicht der ausgeprägte Sinn für Inszenierung: Als während einer der verhalteneren Nummern die Aufmerksamkeitsspanne der Zuhörer zu erschlaffen droht, taucht neben der Bühne ein silberner Drache im Dämmerlicht auf. An Schnüren gelenkt zieht er Minuten lang seine Kreise am Himmel über der staunenden Menge.
Beim Anblick des schillernden Ungeheuers ist die Musik auf einmal gar nicht mehr so wichtig.
■ Wassermusik 2013, bis 11. August; www.hkw.de