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Archiv-Artikel

PHILIPP MAUSSHARDT über KLATSCH Das Gekicke der Kannibalen

Fußball ist deshalb so beliebt, weil ihn die Dümmsten noch verstehen. Cricket würde die Deutschen überfordern

Das Geheimnis der weltweiten Fußballbegeisterung ist, glaube ich, dass nahezu jeder Mensch nach neunzig Spielminuten wissen kann, welche der beiden Mannschaften gewonnen hat oder ob es unentschieden ausgegangen ist. Es gibt Sportarten, da ist es umgekehrt: Je länger man zuschaut, umso weniger versteht man die Regeln. Aus diesem Grund wird Cricket in Deutschland auch nie für ein Massenpublikum taugen: Wir sind noch nicht so weit. Wir sind noch auf Fußballniveau.

Dass meine Lehrerin uns Jungs das Fußballspielen auf dem Pausenhof verbot, empfanden wir damals als herbe Diskriminierung. „Wer mit Füßen nach Bällen tritt“, so ihre Begründung, „tritt auch nach Menschen.“

Frau Pohl hatte damit irgendwie Recht, denn wir hätten sie am liebsten für dieses Verbot direkt in ihren dicken Hintern getreten. Ansonsten wurde uns Kindern von Frau Pohl die von mir bis heute geglaubte Geschichte erzählt, Fußball sei eine Erfindung der Kannibalen, die mit den ausgekochten Köpfen ihrer Opfer nach dem Essen noch ein wenig herumgekickt hätten.

Bei solchen Bildern im Kopf wuchs auch später nie eine wirkliche Liebe zu diesem Sport. Und als ich mich dann doch eines Tages einmal dem Gruppendruck beugte und bei einem Fußballturnier der Redaktion den Torwart mimte, passierte das, was der Professor der Chirurgie an der Universitätsklinik Tübingen bei Betrachtung der Röntgenbilder einen „irreparablen Schaden“ nannte.

„Mein Handwurzelknochen ist seither gesplittert, und das Handgelenk muss, wenn die Arthritis im Alter noch zunimmt, durch eine Metallschiene versteift werden.

Zweimal in meinem Leben war ich in einem echten Fußballstadion. Das erste Mal spielte Stuttgart gegen eine mir nicht mehr erinnerliche Mannschaft, wobei ein gegnerischer Spieler so heftig gefoult wurde, dass er mit einer Trage vom Platz geschafft werden musste.

Mir tat er Leid.

Als man den schwer Verletzten auf dem Weg zum Ausgang an der Zuschauertribüne vorbei trug, riefen die Stuttgarter, die ich bis dahin als gutmütige Mitbürger kennen gelernt hatte, ihm ein höhnisches „Auf Wiedersehen“ hinterher.

Wenn ich wüsste, wie der Spieler hieß und wie überhaupt die Mannschaft geheißen hat, in der er spielte, ich wollte mich heute noch dafür entschuldigen, dass auch ich ein Schwabe bin. Das zweite Mal habe ich vergessen.

„Wollen Sie einen Magnet-Pin“, fragte mich gestern der Tankwart von Aral. „Was ist das?“, fragte ich zurück. „Die Flaggen der WM-Teilnehmer zum Sammeln.“ „Ist mir egal“, sagte ich, und er übergab mir daraufhin die Flagge von Togo. Wahrscheinlich, weil Togo außer mir sonst niemand nimmt.

Schon taten mir die Spieler von Togo wieder Leid, und ich sah sie vor meinem inneren Auge, wie sie auf Tragen aus den deutschen Stadien hinaustransportiert wurden, während Millionen, nein, Milliarden von deutschen Zuschauern ihnen ihr höhnisches „Auf Wiedersehen“ hinterher brüllten.

Wie ich dieses Jahr überstehe, weiß ich noch nicht. Man will nur Nutella essen, schraubt den Deckel ab – und da liegt schon wieder ein Fußballspieler darunter. Man will nur tanken – und fährt dann mit Togo nach Hause. Man will nur ein Laugenweckle beim Bäcker – und bekommt stattdessen ein WM-Brötchen.

Langer Vorrede, kurzer Sinn: Trotz alledem – und obwohl ich dazu noch hundemüde war – zögerte ich, den Aus-Knopf zu drücken, als am Mittwoch dieser Woche nach der „Tagesschau“ im ersten Programm das Länderspiel Italien gegen Deutschland übertragen wurde.

Immer wieder war ich kurz davor abzuschalten, dann fiel wieder ein Tor.

Ich machte es mir bequem und schaute zu, wie der Ball mal mehr auf die linke Seite und dann wieder mehr auf die rechte Seite gespielt wurde.

Neunzig Minuten lang.

Es war wie Schlafen, nur besser. Am Ende ging das Spiel vier zu eins aus.

Für Deutschland, glaube ich.

Fotohinweis:PHILIPP MAUSSHARDT KLATSCH Fragen zur Arthritis? kolumne@taz.de Montag: Peter Unfried und seine CHARTS