: Hoffen auf ein Wunder
AUS FLORENZ MARKUS VÖLKER
Torsten Frings redete nicht lang herum. Er sagte, was zu sagen war: „Katastrophal, wir haben richtig einen auf die Fresse gekriegt.“ Der Profi des SV Werder Bremen hatte ansonsten nicht mehr viel mitzuteilen. Nur dies noch: „Wir müssen uns jetzt zusammenreißen, solche Spiele dürfen uns nicht mehr passieren.“ Angesichts der näher rückenden Fußball-Weltmeisterschaft ist das eine verständliche Forderung. Nur gut drei Monate sind es noch bis zum Eröffnungsspiel zwischen Costa Rica und Frings’ Fußballfreunden, einer Mannschaft, die am Mittwochabend gegen Italiens Nationalteam sang- und klanglos untergegangen ist. Die Italiener beherrschten den Gast im Stadio Artemio Franchi in Florenz wie einst die Medici die Märkte. Das 1:4 gilt in der Einschätzung von Bernd Schneider „schon mit als die größte Niederlage“. Kurzum: Der Kick sei „derb“ gewesen.
Dann trollte er sich, und an die Mikrofone trat ein anderer aus der Elf der Entzauberten. Das war der bayerische Jungnationalspieler Bastian Schweinsteiger, ein Meister der Kurzanalyse. „Meinetwegen können wir vor der WM alle Spiele verlieren, wenn es bei der WM dann gut läuft“, sagte er. Fast hätte man diesen Satz von „Schweini“ überhört, dabei war er äußerst gehaltvoll. Darin verbarg sich die Hoffnung, dass bei der Weltmeisterschaft irgendein imaginärer Schalter umgelegt wird, wie es so schön heißt; dass eine andere Mannschaft auf dem Platz steht; dass es ähnlich wie beim Confed-Cup gut klappen wird. Aber wer kann das mit Gewissheit sagen? Und wer soll ihn finden, den wundersamen Schalter? Warum sollte es bei der WM anders sein als an diesem Abend in der Toskana?
Eine Antwort war recht schnell gefunden. Sie lautete: Das DFB-Team leidet an einer Auswärtsschwäche. Und da die WM im eigenen Land über die Bühne geht, werde man dort kein Problem haben, der Morbus mobile greife nur bei Reisen ins Ausland. Diese Theorie hatte selbst Schneider schnell kapiert. „Heute war’s ein schwarzer Tag von jedem von uns, aber die WM ist ja dann zu Hause.“ Doch was genau wird vorm Großereignis im eigenen Land passieren? Werden die Auserwählten von Musen geküsst, bereitgestellt vom weitsichtigen WM-Organisationskomitee, das diese Erweckungbusselei als Teil des nationalen Auftrages begreift? Diese Mannschaft muss, so viel steht fest, auf ein Wunder hoffen, einen Glücksregen, der auf sie niedergeht, auf den sprichwörtlichen Funken, der vom Publikum überspringt. Wer hofft, der gibt sein Schicksal in andere Hände. So gesehen hilft vielleicht auch päpstlicher Beistand; Benedikt XI. sandte eine Botschaft nach Florenz, in der er „für Vorhaben und Projekte des Guten göttliche Hilfe“ erbat. Und was könnte mehr göttliche Hilfe gebrauchen als das WM-Projekt der Söhne Ratzingers. Die Deutschen wollen nicht nur Pontifex sein, sie wollen Fußball-Weltmeister werden.
Jürgen Klinsmann, der Arbeiter im Weinberg des Deutschen Fußball-Bundes, ist nicht ganz unschuldig daran, dass die Öffentlichkeit bei der WM große Erträge erwartet. Stets vertritt er die Maxime, das Team sei jung, es müsse Erfahrung sammeln, aber ab dem 9. Juni werde es zeigen, was es könne. Im Sommer soll es hoch hinausgehen – bis auf den Kilimandscharo, erklärte Klinsmann vor Wochen bildreich. „Das Projekt, wie wir es vorangetrieben haben, war risikoreich, das wussten wir“, so der Californian Dreamer in Florenz. „Doch wir stellen mit dieser Mannschaft bei der WM etwas auf die Beine.“ Aber was stellen sie da auf die Beine, der Bundestrainer, sein Adjutant Joachim Löw und Oliver Bierhoff, der Manager?
Die Vorrunde wird sein wackliges Team schon überstehen, denn in der Gruppe wartet keine Fußballgroßmacht, kein Italien, keine Niederlande und kein Frankreich. Die „Azzurri“ und die „Oranjes“ haben dem DFB-Team die Grenzen aufgezeigt. Hoffnungslos unterlegen waren die Deutschen gegen sie, erschreckend deutlich schien der Leistungsunterschied auf. In Paris erzielte die Elf gegen eine mäßig inspirierte „Equipe Tricolore“ ein 0:0; als Maßstab dient dieses Spiel sicher nicht.
Seit fünf Jahren und ein paar Monaten hat die DFB-Auswahl nicht mehr gegen einen der Großen gewonnen. Und nach dem Italien-Spiel konnte Klinsmann nur sagen, dass der Gegner seiner Mannschaft „eine Lektion“ erteilt hätte, dass diese Lehrstunde wegzustecken und die Brust nach vorne zu schieben sei.
„Wir ziehen uns da wieder raus“, so Klinsmann. „Unsere Planung, unser Vertrauen steht.“ Was soll er auch anderes verkünden, der notorische Optimist und Vertröster.
Die „Azzurri“ hatten am Mittwochabend sichtlich Spaß, den Deutschen Kopfnüsse zu verteilen. Unter Trainer Marcello Lippi stehen sie neuerdings für puren Offensivgeist. In dieser Form gelten die Italiener als Titelaspirant der WM. Seit Oktober 2004 sind sie ungeschlagen. Und es ist nachzuvollziehen, wenn Spieler Christian Vieri behauptet, Italien sei die einzige Mannschaft, die Brasilien ernsthaft herausfordern könne.
Beeindruckend war vor allem das Spiel der Spitzen Luca Toni (Fiorentina), Alberto Gilardino (AC Milan) und, hinter ihnen zurückversetzt, Alessandro Del Piero (Juventus). Toni und Gilardino, die sich immer auf der Höhe der deutschen Abwehrlinie bewegten, zerrten so lange an der Viererkette, bis sich deren Glieder lösten. Ihnen kam entgegen, dass die Abwehr (Lahm, Huth, Mertesacker, Friedrich) ohne Ordnung und geometrisches Feingespür agierte. Sie wirkte schlichtweg schlecht organisiert. Einer italienischen Mannschaft kann so etwas wohl nicht passieren. Da weiß jeder Spieler, wo seine Kollegen gerade positioniert sind. Den Gesetzen der italienischen Taktikschule folgend ist beinahe jede denkbare Spielsituation theoretisch vorbereitet. Das Spiel der Deutschen wirkt dagegen wie Zufallsfußball. Michael Ballack schilderte das Szenario so: „Wir haben immer wieder die gleichen Fehler gemacht: Die haben vorn gewartet. Wir haben zu viele Fehlpässe in die Beine der Italiener gespielt, und mit zwei, drei Pässen ergab sich eine gefährliche Situation für die.“
Ballack, der Kapitän, hatte recht schnell „einen Klassenunterschied“ erkannt: „Es ist unerklärlich, dass man so schnell in Rückstand gerät, wo wir uns doch so viel vorgenommen hatten.“ Die Mannschaft habe sich ergeben, sei wie gelähmt gewesen. „Wir waren zu sehr mit uns selbst beschäftigt.“
In drei Wochen steht das nächste Länderspiel an – gegen die USA. „Da müssen wir eine Reaktion zeigen“, forderte Ballack. Das Spiel wird in Dortmund ausgetragen. Zu Hause. Wird das also ein sicherer Sieg, Herr Ballack? „Wenn man solche Fehler wie gegen Italien macht, dann hat das mit Heimstärke und Auswärtsschwäche wenig zu tun, im Gegenteil, es besteht die Gefahr, dass uns die Zuschauer noch mehr nach vorne pushen und wir hinten schlecht aussehen.“ Vielleicht sollte die DFB-Elf ihre Spiele nur noch unter Ausschluss der Öffentlichkeit austragen. Das könnte helfen.