: „Frühe Spuren bewusst verwischt“
BRAHMS-FUNDE Um als früh vollendetes Genie zu erscheinen, hat der Komponist seine Jugendwerke systematisch vernichtet. Mit dem Auftauchen früher Chorlieder hatte deshalb wirklich niemand gerechnet
■ leitet das 1971 in einem Barockgebäude eröffnete Hamburger Brahms MuseumFoto: Archiv
taz: Herr Kossmann, wenn die beiden nun aufgefundenen Chorlieder nur als Abschriften vorliegen: Woher weiß man, dass sie wirklich von Brahms sind?
Joachim Kossmann: Wir wissen, dass Brahms sich im Mai 1853 in Celle aufgehalten hat und dass er dort Konzerte gegeben hat, an denen auch der Männergesangsverein „Alte Celler Liedertafel“ mitwirkte. Wahrscheinlich ist, dass Brahms als Dank für die dortigen Auftrittsmöglichkeiten Abschriften von früheren Kompositionen angefertigt hat oder anfertigen ließ. Es war damals Gang und gäbe, dass man für solche Gelegenheiten immer ein paar Kompositionen mit dabei hatte.
Über diesen Abschriften steht „Von Johannes Brahms“?
Ja, und darauf kann man sich wohl auch verlassen. Versetzen sie sich bitte in die damalige Situation: Da kommt ein völlig unbekannter, junger Musiker aus Hamburg und gibt denen ein paar Noten – warum sollten die da etwas „fabrizieren“? Ich folge den Argumenten der Kollegen, die sagen, das müssen Kompositionen von Brahms sein, etwas anderes macht keinen Sinn.
In ersten Meldungen war von einer „Sensation“ die Rede. Welchen Stellenwert hat diese Entdeckung tatsächlich?
Die Sensation besteht darin, dass es aus dieser ganzen Zeit von 1847 bis 1852 sonst kaum eine in der originalen Fassung erhaltene Komposition gibt, die seiner Vernichtungswut entgangen ist: Brahms hat sich enorme Mühe gegeben, alle Spuren aus seiner Jugendzeit zu verwischen und sich als originäres, früh vollendetes Genie zu geben – ganz so, wie Robert Schumann ihn in seinem berühmten Aufsatz „Neue Bahnen“ dargestellt hat. Zwar wissen wir aus Briefen und Erinnerungen Dritter, dass er in Winsen drei Lieder für Männerchor komponiert hat. Die Manuskripte hat Brahms jedoch später zurückerbeten und wahrscheinlich sofort vernichtet. Der Stellenwert dieser Entdeckung besteht darin, dass verschollen geglaubte Kompositionen nun als Abschriften wieder auftauchen. Das ist ein Blick über die Schulter des Komponisten in einer Phase, als er sich nicht über die Schulter hat blicken lassen wollen.
Welche neuen Erkenntnisse kann man aus diesen Funden gewinnen?
Brahms hat immer wieder frühes Material später noch mal verwendet und verarbeitet. Das dritte der in Winsen entstandenen Lieder „Ich schwing’ mein Horn“ zum Beispiel hat er als op. 41,1 neu bearbeitet. Für Brahms-Experten spannend ist nun, ob auch diese neu aufgefundenen Kompositionen im späteren Werk auftauchen. Die Frage ist: Gibt es Ähnlichkeiten mit einem der vielen Chorwerke und Lieder oder der Instrumentalmusik?INTERVIEW: ILJA STEPHAN