: Lieber Leo…
Als die 1917 geborene Mirjam Bolle für einen Dokumentarfilm über ihre Zeit in Amsterdam befragt wurde, erinnerte sie sich wieder an das Bündel mit ihren Tagebuchbriefen aus den Jahren 1943 bis 1944. Sie gab die Aufzeichungen dem Historiker Johannes Houwink ten Cate, der sie davon überzeugte, die Schriften zu publizieren. 2003 erschien das Buch in den Niederlanden. Nun folgt die im Eichborn Verlag erschienene deutsche Übersetzung von Stefan Häring und Verena Kiefer. In seiner Einleitung schreibt Johannes Houwink ten Cate:
Mirjam Bolle, geborene Levie, arbeitete als Privatsekretärin beim Jüdischen Rat von Amsterdam, war im Durchgangslager Westerbork und wurde schließlich nach Bergen-Belsen deportiert. In dieser Zeit schrieb die Jüdin Tagebuchbriefe an ihren zionistischen Verlobten Leo Bolle, der bereits seit 1938 Palästina war. In ihnen erzählt sie auch von der Zeit seit dem Beginn der deutschen Besatzung. Ende 1943 gelang es Levie, eine erste Sammlung von Briefen in einem Lagerhaus verstecken zu lassen. Die Blätter aus Bergen-Belsen konnte Levie selbst aus dem Lager schmuggeln.
Als Sekretärin im Komitee für Jüdische Flüchtlinge erlebte Mirjam Levie den täglichen Kampf um Aufenthaltsgenehmigungen für die deutsch-jüdischen Flüchtlinge. Vor allem die Berichte derer, die Konzentrationslager von innen gesehen hatten, waren erschreckend. Es gab Zeugnisse von „Schlägen und Misshandlungen, wenig Essen und allen möglichen sadistischen Strafen.“ Wenn Mirjam Levie ihrer Familie davon erzählte, reagierte diese beschwichtigend: „So schlimm ist das alles nicht, und in Holland gibt es so etwas nicht.“
Am 10. Mai 1940 überfiel die deutsche Wehrmacht die Niederlande. Am 22. und 23. Februar 1941 gab es die erste große Razzia, ca. 400 Juden wurden über das niederländische Lager Schoorl und Buchenwald nach Mauthausen verschleppt. Daraufhin kam es zu einem zweitägigen Generalstreik, der blutig niedergeschlagen wurde. Die Liquidation der jüdischen Betriebe begann im Oktober 1940; im November wurden alle jüdischen Beamten aus dem öffentlichen Dienst entlassen.
Während des Zweiten Weltkriegs wurden 75 Prozent der niederländischen Juden ermordet. 102.000 Juden wurden deportiert, von diesen überlebten 5.000. Ungefähr 20.000 Juden überlebten in den Niederlanden in Verstecken. Einer kleinen Gruppe von 222 Juden aus dem Konzentrationslager Bergen- Belsen gelang es, im Juni 1944 im Austausch gegen Deutsche freizukommen. Mirjam Levie war unter ihnen.
Sechseinhalb Jahre hatte Levie ihren Verlobten nicht gesehen. Nach ihrer Ankunft in Palästina sprach sie kaum mit ihm über die Vergangenheit. Er stand dem Erzählten innerlich „sehr fern“. Später, als auch aus anderen Ländern gleichlautende Berichte kamen, lenkte er ein wenig ein, blieb aber bei seiner distanzierten Haltung.
Wie sie lange nach dem Krieg erzählte, schrieb Mirjam Levie ihre Briefe in der Absicht, ihrem Mann später, wenn sie wieder zusammen waren, „einmal alles ausführlich zu berichten. In Wirklichkeit ist das so gut wie gar nicht geschehen. Natürlich haben wir kurz nach meiner Rettung darüber gesprochen, aber die Ereignisse in Eretz Israel, der Kampf gegen die Engländer, die Errichtung des Staates, der Befreiungskrieg und all die anderen Kriege, die Geburt unserer Kinder und der Kampf um unsere Existenz haben uns so sehr beansprucht, dass wir an den täglichen Sorgen und Freuden genug hatten.“