: Von Liebe erwischt
Zwei Cowboys, die sich begehren. Ein Paar, dem die Liebe widerfährt und das sie doch nicht aushalten kann. Ang Lees „Brokeback Mountain“ könnte morgen mit acht Oscars ausgezeichnet werden
VON JAN FEDDERSEN
Die Fotografie auf dieser Seite birgt alle Zeichen jener Tragödie, die der Film, aus dem sie stammt, erzählt. Eine körperliche Semiotik als fixiertes Bild. Im Vordergrund des Männerpaares: Jack Twist, hinter ihm Ennis Del Mar. Die Szene spielt in ihrem Sommer der Liebe, 1963, auf dem „Brokeback Mountain“, einem Hügel irgendwo in Wyoming, ganz weit weg von allen Metropolen, kulturell Lichtjahre von New York oder San Francisco entfernt. Ennis Del Mar kann seinen Geliebten nur auf diese Weise in den Arm nehmen – ihm direkt, von vorn, in die Augen schauen, das vermag er nicht. Er begehrt ihn, das zeigt auch dieses Bild, aber er kann es nur schwer genießen, nie jenseits dieses Idylls: Sein Gegenüber ist genau das, wohin es ihn zieht – aber es hat leider das falsche Geschlecht. Ein Mann.
Jack Twist anzusehen hieße für Ennis Del Mar, jenen anzusehen, in den auch er sich verliebt hat – hieße, dessen gelöste Mimik zu lesen und in ihr gespiegelt zu sehen, dass er diese Unwahrscheinlichkeit namens Liebe ausgelöst hat. Und zwar zu ihm. Dass er, Ennis Del Mar, gemeint ist, nicht ein imaginärer Körper außerhalb des seinen; dass er dieses Gefühl nicht nur geweckt hat, sondern es auch nährt. Dem verweigert sich Ennis Del Mar den ganzen Film über – erst, als er seinen Geliebten tot weiß, kann er dessen Foto anschauen und sagen: „Ich schwöre …“
Eine Szene, die jeder und jede versteht. Der eine wiegt sich wie in einer Meditation in einem Glück, das nicht so rasch verdampfen soll. Und der andere hält ihn … und umgekehrt. Aber der Satz von Ennis Del Mar, „Ich schwöre …“, ganz zum Schluss, kommt zu spät. Und das Publikum denkt: Pah, schöner Schwur, jetzt ist es doch wirklich zu spät. Wir werden aber ebenso empfinden: Wenigstens am Ende seiner Tage kann er sich selbst eingestehen, dass das, was er mit seinem Jack hatte, nicht krank war, falsch oder gegen die Natur – und dass er ihn tatsächlich liebte.
„Brokeback Mountain“ erschien als Short Story 1997 im New Yorker. Die Autorin Annie Proulx nahm auf einer Reise etwas wahr, was nicht zwingend ins Auge fällt, wenn man das, was zu sehen ist, nicht wahrhaben kann, weil es unglaubwürdig wirkt, nicht ins eigene Raster passt, nicht den Erwartungen entspricht, die man an die Bilder richtet, die man für plausibel halten kann. Sie saß, erzählt sie in ihrem Essay über die Verfilmung von „Brokeback Mountain“, eines Tages irgendwo im Mittleren Westen in einer Kneipe und wollte etwas trinken. Trainierte Reporterin, immer auf Empfang, in dieser Sekunde offenkundig sehend für das, was nicht möglich scheint, sah sie einen alten Mann an einem Tisch. Und irritierenderweise, wie sie einräumt, fühlte sie, prüfte, mehrmals genauer beobachtend, ehe sie erkannte, dass der nicht den Mädchen nachguckte, Kellnerinnen beispielsweise, sondern den Rodeojungs, den Cowboys, die in einer Ecke standen und flachsten und röhrten und dröhnten, wie es nicht nur in dieser Weltgegend Männer gern tun, wenn sie sich als Männer zu justieren haben: Bloß nicht weiblich wirken.
Die Schriftstellerin erkannte in diesem Beobachter eine Sehnsucht, wie sie sagte, ein Begehren, das nicht einlösbar schien, ein Sehnen nach dem, was nicht vorgesehen sein soll. Aus diesen Sequenzen bastelte sie ihre famose Geschichte für das Magazin. Was schon in ihr leuchtete, was, so Proulx selbst, Regisseur Ang Lee kongenial in Szene setzte, war eben eine Liebe, die undenkbar schien und doch existiert. Eine Tragödie? Was sonst! Tränen, im Kinosessel geweint, Berührungen, nachhaltige, Mitgefühl, wieder und wieder aufsteigend, lange nach dem Film, Szenen, die einem nicht aus dem Kopf gehen: Anders als in der Form des Dramas geht das nicht.
Hollywood interessierte sich früh für den Stoff – aber zwei Cowboys, die sich mehr als nur an die Wäsche gehen, sondern begehren, nicht nur sexuellen Notstands wegen, sich voneinander lossagen und es doch nicht können: Ist das verkäuflich? Will das Publikum das sehen? Und wenn ja: Welche Kompromisse müssten filmisch eingegangen werden?
Wie man ab nächsten Donnerstag im Kino sehen wird: keine. Nichts von dem schroffen Realismus des Proulx’schen Plots ging verloren. Nur die Filmwerbung traute sich nicht – wie auch die Debatte in den USA seltsam fleischlos blieb. Eine Liebesgeschichte, hieß es, wie einst „Vom Winde verweht“, eine von universeller Geltung – darin waren sich die New York Times, der San Francisco Chronicle oder die Los Angeles Times einig. Eine Lovestory, die es mit der Anmut von „Brücken am Fluss“ aufnehmen könne, ja, Ang Lee sei ein astreiner Film gelungen, bei dem gar nicht so sehr eine Rolle spiele, dass die Protagonisten Männer sind, nicht klassisch Mann und Frau. Blödsinn, wenn auch gut gemeinter. Man möchte den Kritikern wohlwollendes Interessen unterstellen – denn ihre Urteile waren nicht triftig. Tatsächlich lebt dieser Film von der Idee, eine schwule Liebesgeschichte als quasirealistische Dokumentation echter homosexueller Not zu zeigen.
Nichts ist universalistisch unterlegt, es sei denn, man findet, die Vergeblichkeit der Liebe als solcher sei bereits eine universalistische Konstruktion. In der New York Review of Books war die entsprechende Klarstellung von Daniel Mendelsohn („An Affair to Remember“) zu lesen: „Brokeback Mountain“ verhandele zunächst keine allgültigen Probleme, egal ob hetero oder homo, sondern in erster Linie das brutale, mörderische Setting einer Liebe zwischen Männern, die existiert und doch nicht erwünscht ist, nicht sein darf – und falls es sie, wie der Zufall so spielt, doch gibt, dann nur um den Preis der Bedrohung. Noch Ende der Neunzigerjahre sei ein Student in Wyoming an einem Viehzaun zu Tode geprügelt worden – weil er als schwul erkannt wurde.
Was „Brokeback Mountain“ zu einem gewaltigen Stück Kino macht, ist, dass man diese Geschichte und all die anderen Nachrichten aus der Welt des Hasses gegen Homosexuelle glaubt. Sich aber, weil es ein schöner Film ist, in ihr erkennt – und so etwas wie Anteilnahme empfindet für die beiden. Meisterliche zweieinviertel Stunden, und zwar deshalb, weil alle Klischees nicht nur verletzt werden, sondern wie verschwunden scheinen. Jack Twist und Ennis Del Mar, zwei junge Männer, Herumtreiber, Tagelöhner, schlechter, liebloser, brutaler familiärer Hintergrund, viel Nikotin und Alkohol, die materielle Armut in jede Pore ihrer Körper eingesunken. Lernen sich beim Viehtreiber kennen, beide sollen eine Schafherde hüten, den Sommer über. Wunderbar, ja authentisch schon, beide Figuren wortkarg zu zeichnen – und Ennis Del Mar, geradezu wahrhaftig verkörpert von Heath Ledger, ist maulfauler als Jack Twist, den Jake Gyllenhaal spielt. Man weiß nicht, ob beide schwul sein könnten, aber sie möchten es auf keinen Fall sein, das steht fest. So sind sie nicht kodiert, so sieht ihr Familienauftrag es nicht vor – das ist nicht das, was ein Cowboy sein könnte. Schwul? Wie Weiber, verkehrte Männer.
In den Bergen kommen sie sich näher – aber nicht im Stile eines pornografisiert anmutenden Stereotyps. Man ahnt, dass sich da Nähe zwischen beiden anbahnt, dass da etwas wie Intimität reift, aller Fremdheit zwischen ihnen zum Trotz oder gerade ihretwegen. Jack Twist ist es, der Ennis Del Mar schließlich verführt – wie genau, soll hier nicht verraten werden, aber die Kritik, „Brokeback Mountain“ gefalle sich in nicht so ganz schwulen Bildern, ist verfehlt. Man hat in dieser Szene echt was zu lernen, das taugt für den nächsten Campingurlaub. Deutlicher jedenfalls möchte man das auch nicht sehen, krasser ist es nicht nötig: Man sieht, wie beide sich begehren, keuchenden Sex haben, sieht sie zärtlich miteinander, traut, sich küssend (bei Sexuellem), sieht sie zum Paar werden. Wenngleich Ennis Del Mar gegen seine Lust (nicht allein am Körper des Anderen) kämpft und furchtsam-kalt nach der ersten Nacht sagt, das müsse alles eine Ausnahme gewesen sein. Schwul?
Und ist das nicht überhaupt unvorstellbar? Schwule – das sind doch „Männer“ aus Manhattan, Beach Boys, Lifestylegewinner, keine harten Kerle, keine Proleten, Cowboys schon gar nicht. Bei denen Härte zählt, eine gewisse Ledrigkeit im Gemüt und Robustheit in den Umgangsformen? In Ang Lees Film gibt es eine Szene, in der Ennis Del Mar berichtet, wie sein Vater ihn und seinen Bruder eines Tages zu einer Farm führten, die von zwei Männern bewirtschaftet wurde. Der eine wurde ermordet, sein Penis zerschreddert, geschlachtet, sein Körper wie gevierteilt. Das ist das, was gelernt wird: Wenn zwei sich doch zusammentun, zwei Männer, mutig, tapfer, verdient das Strafe.
Diese Einschreibung in seinen Körper bekommt Ennis nicht aus sich heraus, das versteht man: Nie so enden wollen wie jener Mann, den sein Vater ihm ja irgendwie stolz wie ein verwesendes Stück zerlegtes Vieh vorführte. An diesen Umständen scheitert auch der Wunsch von Jack Twist, der ja mit seinem Geliebten zusammenleben will. Was sie sich leisten, ist eine Tradition, die zwanzig Jahre währt: beide heterosexuell verheiratet, das musste sein, das sollte sein, beide Väter geworden, aber beide unentwegt miteinander Ferien verbringend – ein Kompromiss und mehr als nichts.
Der Film, in Bildern von den Rocky Mountains schwelgend, meist menschenleer, der beide über mehr als zwei Jahrzehnte schildert, sie beide bis in die Achtziger begleitet, zeigt die Möglichkeiten, die sich ihnen bieten: Als Ennis Del Mar und seine Frau sich scheiden lassen, missversteht dies Jack Twist – fährt in Rekordtempo zu ihm von Texas nach Wyoming, hoffend, nun werde ihr eigentliches Leben beginnen. Enttäuschend für ihn, dass der nicht will – die Brutalität der Homophobie ist für ihn keine theoretische Größe, seine mangelnde Courage wohl reflektiert: Er muss als Landarbeiter bleiben, wo er ist – kein Fluchtpunkt Manhattan.
Ang Lee, seit seinem Film „Das Hochzeitsbankett“ wohl erfahren mit schwulen Vorlagen, damals aber noch mit einem Ende, das doch wieder durch das Siegel der Heteronormativität beglaubigt wird, brauchte Annie Proulx’ Story kaum auf seine Wünsche umzupolen: Schon die schriftliche Vorlage war Antiklischee ohne triumphale Attitüde. Er hat den ersten Film mit schwulen Helden gedreht – und er gibt ihnen Recht. Er denunziert sie in keiner Szene, keine Sekunde hegt man den Verdacht, es sei etwas Missratenes zu sehen. Den liberalen Öffentlichkeiten, wo auch immer, müsste dieser Film zu denken geben. Homosexuelle gibt es offenbar nicht nur unter Umständen, die sich wie CSD-Parade, Schöner-ficken-Ästhetiken oder Metrosexualität („Alle Identitätskategorien verschwimmen“-Blablabla) buchstabieren lassen. Begehren, das nicht nur Sexuelles meint, mutiert zum Drama, wenn es das falsche ist: Und homosexuelles Begehren, das nicht im Underground gelebt werden möchte, ist eines, das ohne Drama nur selten gelingt, jedenfalls nicht in Milieus, die streng alles bestrafen, was sich männlich-antiweiblichen Normen nicht fügt.
Was „Brokeback Mountain“ kostbar macht, ist eine utopische Qualität. Nicht so sein müssen, wie man zu sein hat – und die Normen in der schwulen Welt sind da nur graduell barmherziger als die innerhalb heterosexueller Horizonte. Der Überschuss an Moral generiert sich obendrein aus der Konstellation, dass da zwei Männer gleichen Alters miteinander zu tun haben: kein faktisch pädosexuelles (Horror-)Setting wie in Luchino Viscontis „Tod in Venedig“, an dessen Ende Aschenbach die Schminke, die ihn jugendlicher machen soll, auf den Wangen herabströmt und er die Liebe zum matrosenhemdigen Tadzio endgültig als gescheitert anerkennt. Hier ist es ein Verhältnis zwischen Gleichen. Ennis Del Mar und Jack Twist, die für keine Rolle in „Sex & The City“ oder „Queer As Folk“ gut wären, begrenzt nur stylish, kein Personal, um am Hofe Truman Capotes aufgenommen zu werden. Keine Exzentriker sie beide, ohne Bildung – also keine Nische, in der sie sich einrichten könnten. Ohne Heimat dort, wo ihre Heimat ist – ohne Platz auch dort, wo die Asyle für Provinzflüchtlinge liegen, New York, San Francisco … und, ja auch: Berlin, Köln, Hamburg, Frankfurt.
Hübsch und mutig vom Regisseur, beide miteinander umgehen zu lassen auch in Momenten, die nur ihre Paarung illustrieren, nichts zur Dynamik der Story beitragen: Wie Liebende eben miteinander spielen, sich necken, füreinander sorgen, sich langweilen oder für die schnelle Nummer auf die Matratze (später im Hotel) hetzen. Sex ist nicht alles, lernen wir, aber ohne Sex unter Liebenden ist alles viel weniger: Das wiegt alle Schwächen im Alltag alles in allem gut auf.
Zwei Männer, die nicht weich sein wollten, weil Männer nicht so sind. Cowboys? Erst recht nicht. Und die es doch mussten. Sich, auch das eine ersichtlich utopische Qualität, als Männer erkennen – und nicht als weiblich oder männlich zuweisen müssen, um sich zu genießen. Der belgische Film „Mein Leben in Rosarot“ zeigt, beispielsweise, das Negativ zu „Brokeback Mountain“: Ein Junge, der nicht so ist wie andere Jungs, der die Farbe Rosa liebt und gern eine Frisur mit Pony trägt. Der zart ist und sich Raufereien verweigert. Ein brutaler Film, weil er kein Happyend bereithält: Die Eltern, gute, aufgeklärte Europäer, wie sie in Mitteleuropa eben so leben, ertragen ihr Kind so nicht. Auch dies eine seelische Einschreibung, die als Wunde nie ganz verheilen wird.
Und im deutschen Film? Ist ein Regisseur vorstellbar, der mit ähnlicher Kraft einen Film dreht, der unter zwei Männern im Ruhrpott spielt, der eine Bergmann, der andere Kfz-Schlosser – aber bitte ohne CSD-Rummel, tuntenverquietschtem Timbre und sonstige Heiterkeit, die doch nur signalisieren möchte: Sind zwar schwul, aber total lustig? Undenkbar, schon als Fantasie niederschmetternd unvorstellbar. Alle nicht gut genug, niemand, der diesen kühlen Blick der Empathie schon einmal gezeigt hätte.
Ennis Del Mar erfährt Monate nach dem letzten Kontakt mit seinem Jack, dass dieser tot ist. Im Film wird das nicht ganz deutlich, aber er ist von einen Schwulenhasser mit dem Wagenheber ermordet worden. Die letzten zehn Minuten von „Brokeback Mountain“ zeigen einen Übriggebliebenen dieser Liebe, der trauert, der dessen gewahr wird, was er versäumt hat. Fährt zum Haus von Twists Eltern, tritt im Grunde dort auch auf wie ein Witwer. Riecht am ungewaschenen Hemd seines Jack, darunter sieht er ein altes Hemd von sich selber: übereinander auf einen Bügel gehängt. Das Muster der Totenklage wird kenntlich: Die Liebe wird zum funkelnden Kristall erst mit der leiblichen Abwesenheit des Geliebten. Und doch: Man glaubt Ennis Del Mar, dass er aufrecht trauert und darum weiß, dass er es vergeigt hat.
An dieser Stelle liegt wirklich eine universalistische Botschaft geborgen: Die Garantie, die Liebe des Lebens zu treffen und ihr dann auch zu folgen, gibt es nicht. Da sind sich Hetero- wie Homosexuelle sehr ähnlich. Oscar-würdig ist Ang Lees Film nicht dieses Credos wegen. Sondern weil er zwei Männer zeigt, die ihren gemeinsamen Triumph nicht zu fassen kriegen. Die nicht falsch sind. Falsch ist nur alles, was sie daran hinderte, das zu sein, was sie sein wollten – und nicht konnten.
JAN FEDDERSEN, Jahrgang 1957, taz.mag-Redakteur, lebt in Berlin. Sein zweitliebster Film um ein queeres Thema: Harvey Fiersteins „Das Kuckucksei“ aus dem Jahre 1988