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Archiv-Artikel

Free House

Der Berliner Produzent Henrik Schwarz ist der oberste Protagonist eines neuen, elaborierten House-Sounds

Allein, dass Henrik Schwarz über vier Jahre ein Geheimtipp in der schnelllebigen Clubkultur war, macht den Wahlberliner zur Ausnahmefigur in der elektronischen Tanzmusik. Auch seine Veröffentlichungen überschreiten locker die Halbwertszeiten von gängigem DJ-Futter. Mit seinem beseelten Anspruch leitet der House-Produzent eine neue Blüte von Dance-Music ein, die mehr sein will als ein Soundtrack zur Leibesertüchtigung.

Von den Altstars des Rave hat Schwarz nichts an sich: keine Spuren von Afterhours, nicht die verkokste Fahrigkeit des Party-Jetsets. Davon, dass der BBC-Moderator und Obertrainspotter Gilles Peterson ungebremster Schwarz-Fan ist, lässt sich Schwarz nicht unter Druck setzen. Unbeeindruckt zeigt er sich auch von den Veröffentlichungszyklen in der Clubmusik: In vier Jahren hat der Betreiber des Labels Sunday Music kein Dutzend 12-Inches veröffentlicht. Für sein Debütalbum lässt er sich Zeit.

Trotzdem ist Schwarz fest in der Clubkultur verwurzelt. Seit ihm ein Set von Jeff Mills Anfang der Neunzigerjahre Augen und Ohren öffnete, weiß er um die Schönheit der Nacht, ist sich aber auch der Vergänglichkeit ihrer Musik bewusst. Wozu heute noch die Arme in die Luft gehen, verstaubt schon ein paar Wochenenden später in den Plattenregalen. So hat der einstige Fortschrittsglaube in der elektronischen Musik zu selbstbezogenen Mikrotrends, kreativer Erschöpfung und Anbiederung an die Schlüsselreize des Rocks geführt. Für Menschen, die sich immer schon unwohl in Clubs gefühlt haben, war die Sinnkrise elektronischer Musik Anlass, das Ende der Dance-Music auszurufen und die Luftgitarre auszupacken. Schwarz und anderen wiederum gibt der nachlassende Erfindungsdruck den nötigen Freiraum, um an einer Musik zu feilen, die selbstbewusste Historizität demonstriert, die auch Fluchtlinien in unerwartete Felder eröffnet. Inzwischen können Produzenten aus einem riesigen Stilfundus schöpfen – sei es Acid, Electro oder Sägezahn, samt ihrer Bezüge in die Vergangenheit. Das Genre, das die neue Entspanntheit und Offenheit am besten fasst, weist auf das Labor hin, in dem alles begann: House.

Im heutigen House vereinen sich viele relevante Richtungen des Dancefloors: Die von New Wave und Industrial beeinflussten Spielarten von Carl Craig, mit Jazz und Funk fusionierte Broken Beats aus West-London oder die genealogische Fortführung von Gospel, Soul und Disco im Sinne von Morgan Geist – oft sind sie alle in einem Track präsent. Besonders Berliner Akteuren traut man dabei zu, nach Jahren der Herrschaft formalistischer Strenge im Minimal und härteren Techno-Gangarten nächste, konzentrierte Impulse zu geben.

Um das Innervisions-Label des Berliner DJs Dixon formieren sich derzeit mit dem Duo Âme, dem Kölner Marcus Worgull und Henrik Schwarz die neuen Protagonisten eines elaborierten Sounds. Die gleißenden Flächen und beseelten Pianofiguren des Detroiter und Chicagoer House treffen auf die verstrahlt trancehafte, aufgeräumt knackige Präzision von deutschem Techno. Eine Mischung, die die Vielseitigkeit der Neunzigerjahre auf einer schweißnassen Metaebene verschmilzt.

Vorläufiger Höhepunkt dieses Reifungsprozesses ist der Henrik-Schwarz-Remix des Stücks „Walk A Mile“ der Londoner Dance-Pioniere Coldcut. Schwarz fächert hier das ganze Spektrum seines narrativ-organischen Entwurfs auf. Bis zum Einschlag der Bassdrum nach etlichen mutigen Minuten oszilliert der herrliche Gesang von Robert Owens frei im Raum. Begleitet wird die klassische Stimme des Deep House nur von Marimba-Improvisationen, bis ein dreckig schiebender Chicago-Groove einsetzt und die Reise in einen opulenten Streicherhimmel führt.

Henrik Schwarz überschreitet dabei die engen Begrenzungen des Dancefloors. Seine Produktionen sind nicht mehr der Funktionalität und dem linearen Fortschritt verpflichtet, sondern fordern zyklisch mit Bezügen und Inhalten zur Bewegung heraus.

Letztes Jahr spielte Schwarz auf dem Bordeaux-Jazz-Festival ein improvisiertes Konzert mit dem Chicagoer Ethnic Heritage Ensemble des Percussionisten Kahil El’Zabar. Im dynamischen Einklang von akustischen und digitalen Signalen entstand die Idee einer neuen Musik wie aus einem Traum von Ornette Coleman. Die elitär ausdifferenzierte Virtuosität des Jazz liegt hier im populär stumpfen Rhythmuskorsett von House: komplexester Inhalt in einfachster Form. Zwischen zwei Bassdrums hat der Musiker alle Freiheit, die Welt in Frage zu stellen und sie zu umarmen. Nennen wir diese neue Musik einfach Free House. Und Henrik Schwarz ihren Erfinder in spe.

UH-YOUNG KIM