: Techno als Tradition
KRACH Eine Institution der Westberliner Subkultur feiert ihre Auferstehung: Nach über 20 Jahren Pause wird das Festival „Berlin Atonal“ von Gründer Dimitri Hegemann im ehemaligen Heizkraftwerk wiederbelebt
Den Auftakt zum Festival „Berlin Atonal“ macht am Donnerstag der US-Avantgardist Glenn Branca (US) gemeinsam mit seinem Ensemble, sowie Frieder Butzmann mit einer Performance der Ursonate von Kurt Schwitters. An den folgenden sechs Tagen gibt es nicht nur weitere „atonale“ Konzerte vom Jon Hassell Quartet, Raime und anderen, sondern auch multimediale Installationen in den Räumlichkeiten des Kraftwerks, die tagsüber erkundet werden können, genauso wie Workshops, Screenings und Gespräche.
■ Berlin Atonal: Kraftwerk, Köpenicker Straße 59–73, 25.–31. 7., 18–22 €, www.berlin-atonal.de
VON TIM CASPAR BOEHME
Die letzte Dekade Westberlins bekommt man von heute aus nur nostalgisch verklärt in den Blick. Wenn man einmal davon absieht, dass die Vergangenheit im Vergleich zum Jetzt fast immer bevorzugt behandelt wird, muss die Sondersituation der BRD-Insel inmitten der DDR paradiesisch gewesen sein. Zumindest für jene, die Anfang der achtziger Jahre irgendwie mit Sub- oder Gegenkultur zu tun hatten. Besser kann höchstens noch die Zeit direkt nach dem Mauerfall gewesen sein.
In die Endphase der geteilten Stadt fällt auch das Festival „Berlin Atonal“, das 1982 zum ersten Mal im SO36 begangen wurde und auf dem so ziemlich alles zugegen war, was damals in der lokalen Postpunk- und Industrialszene Rang und Namen hatte: Bands wie Einstürzende Neubauten, Malaria! und Die Haut traten hier ebenso auf wie der Geräuschesammler Frieder Butzmann oder die Formation Sprung Aus Den Wolken. Veranstalter war der spätere Betreiber des Tresor-Clubs, Dimitri Hegemann.
Mit den Jahren kamen internationale Künstler hinzu, darunter die englischen (Post-)Industrial-Pioniere Psychic TV oder Test Dept. Auch musikalisch verschoben sich im Lauf der Zeit die Akzente. So bot die bisher letzte Ausgabe des Festivals, das 1990 unter dem Titel „The spirit behind the machines“ lief, einen Vorgeschmack auf die Dinge, die ein Jahr darauf im Tresor folgen sollten: Im Künstlerhaus Bethanien spielten britische Acid-House-Protagonisten wie 808 State, Baby Ford und Greater Than One, allesamt Vorboten von Techno. Danach begann eine andere Geschichte.
Oder doch nicht? Nach 23 Jahren Pause gibt es jetzt eine Reinkarnation von „Berlin Atonal“ unter der Leitung von Dimitri Hegemann. Darin bündelt er in gewisser Hinsicht seine Erfahrungen seit den Achtzigern unter einem Dach, musikalisch wie geografisch: Als Ort dient das Kraftwerk Berlin, auf dessen Gelände seit 2007 der Tresor residiert. Das ehemalige Heizkraftwerk wurde Anfang der Sechziger erbaut und stand jahrelang leer, bis es von Hegemann erschlossen wurde. Nun werden dort Künstler zu hören sein, die zum Teil nahtlos an das frühere „Atonal“-Konzept anschließen – wie der US-amerikanische Gitarren-Avantgardist Glenn Branca, ein Vorreiter in Sachen Wall of Sound und Gitarren-Drones. Oder der Engländer William Bennett, der mit seinem Afro-Noise-Projekt Cut Hands erwartet wird und seit den Achtzigern in der hochgradig atonalen Power-Electronics-Band Whitehouse lärmt. Sogar alte Bekannte kann man treffen: Der kalifornische Klangkünstler Stefan Joel Weisser alias Z’EV war schon beim zweiten „Atonal“-Festival von 1983 dabei.
Unter den jüngeren Musikern finden sich zahlreiche Vertreter düster-reduzierter Varianten von Techno: Die italienischen Duos Dadub und Voices of the Lake stehen für avancierte Produktionen, bei denen selbst kleine Details in der Klanggestaltung genügen, um den Beweis dafür zu erbringen, dass es im Techno nach wie vor Entwicklung gibt. Und Musiker wie der Londoner Produzent Actress schaffen ihre ganz eigene Version elektronischer Musik aus dem Überblenden von Genres wie House, Dubstep und Ambient.
Endgültige Historisierung
Die Wiederbelebung der Marke „Berlin Atonal“ kommt unter Marketinggesichtspunkten zu einem guten Zeitpunkt: Derzeit erfreuen sich einerseits die lärmigeren Auswüchse der frühen Achtziger einer Renaissance, andererseits durchläuft Techno mittlerweile seine endgültige Historisierung. Da ist die große Geste, mit der Hegemann jetzt die Kontinuität von Industrial, New Wave und Verwandtem mit dem Techno-Sound der Wendezeit bis heute betont – Techno war irgendwie immer atonal –, fast eine Spur zu naheliegend.
Zudem ist dies nur ein Strang der Geschichte von Techno. Sie entspricht auch nicht unbedingt dem gesamten Spektrum der Musik, die während dieser sechs Tage im Kraftwerk geboten wird. Ganz abgesehen davon, dass längst nicht alles im Programm als atonal zu bezeichnen ist – was in den Achtzigern nicht anders war. Dass zum Beispiel das Brandt Brauer Frick Ensemble, das seine durchaus wohlklingende Lesart von Clubmusik auf akustischen Instrumenten interpretiert, mit von der Partie ist, erklärt sich wohl am ehesten durch den Umstand, dass sich das Projekt derzeit allgemeiner Beliebtheit erfreut. Spätestens hier droht die suggerierte große Erzählung von „Atonal“, Tresor und den Nachwirkungen sich im Beliebigen zu verlieren.
Mit der Geschichte ist es ohnehin so eine Sache: Während Hegemann im Buch „Der Klang der Familie“ von Felix Denk und Sven von Thülen von einem Auftritt der Berliner Künstlergruppe Die Tödliche Doris bei „Berlin Atonal“ erzählt, kann sich der Tödliche-Doris-Mitgründer Wolfgang Müller in seinem eigenen Buch, „Subkultur Westberlin 1979–1989. Freizeit“ lediglich an Einladungen zur Teilnahme erinnern. Man habe diese aber stets abgelehnt.