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Archiv-Artikel

„Es gab nie eine Grünen-Phobie“

„Wir wären zur Vermeidung einer großen Koalition in Stuttgart zu neuen Lösungen bereit“

MODERATION GEORG LÖWISCHUND PETER UNFRIED

taz: Boris Palmer, ist Ihnen Ihr Vetter manchmal peinlich?

Boris Palmer: Auf keinen Fall. Warum?

Vor etwas über einem Jahr hat er einen Parteifreund von der CDU öffentlich geohrfeigt.

Boris Palmer: Es hat schon den Richtigen erwischt.

Christoph Palmer: Das will ich nicht stehen lassen. Da ist mir ein grundlegender Fehler passiert, ich hab’ mich entschuldigt und bin als Minister zurückgetreten.

Ist Ihnen denn Ihr Cousin manchmal unangenehm?

Christoph Palmer: Auf gar keinen Fall. Wir haben so ein gutes Verhältnis. Das ist durch die Politik eigentlich erst eng geworden.

Boris ist Sohn von Helmut Palmer, dem Remstalrebellen, der sich als Bürgerrechtler sah. Christoph kommt aus einem CDU-Elternhaus. Galten die Grünen bei Ihnen als Spinner?

Christoph Palmer: Nein, die baden-württembergischen Grünen und vor allem die in Stuttgart waren seit 1980 keine Verrückten. Es gab dort immer einen Teil, der nicht von 68 kam, sondern von einer wertkonservativen Schöpfungsbewahrungsidee. Deshalb hat man auch in der Stuttgarter Kommunalpolitik schon seit den 80er-Jahren einen kooperativen Stil gepflegt. Einige Grüne stammten aus dem tiefsten Bürgertum, und den Kulturbruch hat man hier weniger gespürt als in anderen Bundesländern. Eine Grünen-Phobie gab es nie.

Eine gute Ausgangsposition, um nach der Landtagswahl über Schwarz-Grün zu reden.

Christoph Palmer: Wo sind die inhaltlichen Schnittmengen? Wir wären zur Vermeidung einer großen Koalition in Stuttgart zu neuen Lösungen bereit, und es ist auch eine liebenswürdige Diskussion. Aber wenn man es auf die Inhalte abklopft, findet man eindeutig mehr Schnittmengen mit der FDP als mit den Grünen.

Boris Palmer: Eins musst du zugeben: Die FDP ist inhaltlich und personell in Baden-Württemberg so ausgeblutet, dass ihr sie nur als Mehrheitsbeschaffer brauchen könnt. Aber sicherlich nicht, um Neues zu entwickeln.

Christoph Palmer: Das will ich nicht stehen lassen; für meinen Freund Ulli Goll, den Spitzenkandidaten der FDP, gleich gar nicht.

Boris Palmer: Der hat das Charisma eines Schuhkartons.

Christoph Palmer: Das sehe ich anders. Aber ich muss nicht die FDP verteidigen.

Wie sieht Boris Palmer Schwarz-Grün?

Boris Palmer: Wenn die inhaltlichen Voraussetzungen stimmen würden, kann ich mir eine Koalition vorstellen. Aber es gibt in der CDU eine starke Bewegung weg von Ministerpräsident Günther Oettinger. Sein bester Freund Andreas Renner ist als Sozialminister rausgemobbt worden. Die Traditionsbataillone übernehmen die Macht, und die CDU fällt in alte Muster zurück, um Stimmen zu fangen. Dafür steht der Muslim-Test, mit dem sie Wähler im ländlichen Raum mobilisieren will. Zum anderen die immer schärfere Betonung der Atomkraft. Ich bedauere diesen Rückfall.

Wozu gibt es Koalitionsverhandlungen? Den Muslim-Test finden auch CDUler falsch, und der Atomausstieg ist keine Länderangelegenheit.

Boris Palmer: Ich gebe Ihnen Recht, wenn Sie diese Punkte isoliert sehen. Aber mir geht es darum, wie die CDU sich im Wahlkampf ausrichtet: antiökologisch und latent ausländerfeindlich. Die CDU hat die innere Modernisierung abgebrochen. Wenn sie einen Mann wie Renner nicht aushält, wie soll sie die Grünen aushalten?

Christoph Palmer: Es ist absurd, die CDU in Traditionalisten und Modernisten aufzuspalten. Diesen Gegensatz gibt es nicht. Die CDU hat das Land hier in 50 Jahren vom Armenhaus zur prosperierendsten Region Deutschlands gemacht. Die Wirtschafts-, Hochschul- und Technologiepolitik sprechen für sich. Wir haben keinen Nachholbedarf an Modernisierung.

Boris, Sie sind in der Opposition. Christoph, Sie waren Erwin Teufels Vertrauter. Wer von Ihnen kämpft denn engagierter gegen Oettinger?

Christoph Palmer: Unsinn, ich kämpf’ überhaupt nicht gegen Oettinger. Er muss Ministerpräsident bleiben!

Boris Palmer: Ich auch nicht. Ich kämpfe gegen eine schwarz-gelbe Regierung. Das ist ja der Reiz an Schwarz-Grün: bei der CDU Modernisierungsblockaden aufzubrechen in der Frage Ökologie und Ökonomie oder in der Energieversorgung. Der große Teil der wirtschaftlichen Eliten akzeptiert Rot-Grün nicht. Schwarz-Grün würde Dinge machen, die Rot-Grün nie durchgebracht hat.

Wie wichtig ist die Atomfrage?

Boris Palmer: Wir können die Atomkraft bis 2020 vollständig umweltfreundlich ersetzen. Der Ausstiegsfahrplan ist für uns unantastbar.

Christoph Palmer: In Baden-Württemberg kommen rund 60 Prozent des Stroms aus Kernkraftwerken. Du verkaufst die Leute für dumm, wenn du sagst, dass das bis 2020 kompensierbar ist. Und was die Einbürgerung betrifft: Es ist kein Muslim-Test – es ist ein Einbürgerungsleitfaden auf der Grundlage des rot-grünen Zuwanderungsgesetzes.

Boris Palmer: Dein Nachnachfolger, Staatsminister Willi Stächele, kam neulich in meinen Wahlkreis und sagte nebenbei zu 21 Prozent der Muslime in Deutschland: Hier ist die Fahrkarte. Ein Fünftel der Ausländer raus? Das geht nicht. Das ist kein Partner für uns.

Christoph Palmer: Nach meinem Kenntnisstand hat der Willi Stächele das nicht so gesagt.

Boris Palmer: Ich hab’ ein Video dabei, sollen wir’s angucken? Ich hab’s auf meinem Laptop.

Regiert also Schwarz-Gelb weiter?

Boris Palmer: Die FDP ist die bequemere Partnerin. Aber sie ist auch die langweiligere, die inhaltlich nichts mehr voranbringt. Baden-Württemberg ist ein interessanter Fall, weil produktiver Streit zwischen CDU und Grünen hier möglich ist. Wir sind nicht durch ideologische Gräben oder soziale Milieuunterschiede voneinander getrennt, sondern nur durch inhaltliche Streitpunkte.

Sie preisen sich der CDU ja an.

Boris Palmer: Ich will aufzeigen, wo das Land von unserer Auseinandersetzung profitieren kann. Zum Teil passiert das ja schon. Die CDU hat ihre Ablehnung der Ganztagsschule aufgegeben. Die CDU lehnt die Betreuung von unter Dreijährigen nicht mehr ab. Mir geht’s aber viel zu langsam.

Christoph Palmer: Du verschweigst, dass schon 1990/91 die CDU die ersten Schritte in dieser Richtung gemacht hat: Einführung der verlässlichen Grundschule mit Kernzeiten und des Projekts Hort an der Schule. Das ist dann ausgeweitet worden. Es hat auch kein Mensch etwas gegen Ganztagsbetreuung. Sie muss nur finanzierbar sein. Und noch etwas: Am besten wachsen Kinder immer noch in der Familie auf und nicht in einer anonymeren Betreuungseinrichtung.

Boris Palmer: So eine Sicht ist nicht mehr zeitgemäß. Es ist empirisch widerlegt, dass die frühe Betreuung Kindern schadet.

Christoph Palmer: Wichtig ist, dass Erziehung nicht komplett delegierbar ist. Mein Ansatz ist, dass Eltern zunächst die absolute Verantwortung haben. Die Familie ist durch nichts ersetzbar.

Neulich haben Sie gesagt, eigentlich seien Kinder das Einzige, um das es im Leben gehe. Wollten Sie die Senioren in der CDU aufwecken?

Christoph Palmer: Nein. Die Bibel hat doch den Schöpfungsauftrag formuliert. Nun entdecken wir Kinder wieder als Priorität unseres Lebens, nachdem der Schöpfungsauftrag nach 68 in den Hintergrund getreten war.

Das war die Aufklärung.

Christoph Palmer: Sie nennen’s Aufklärung. 68 hat sicher einen wichtigen reformerischen Impuls gegeben. Aber die Entautorisierung und der Bruch mit allen Traditionen war falsch.

Boris Palmer: Wir sehen hier wieder, dass der konservative Teil des Bürgertums 68 nie verstanden hat. Er glaubt, dass er im Recht gewesen sei, weil es gelungen ist, die Protestbewegung wieder zu integrieren. Sie übersehen, dass die Integration von beiden Seiten erfolgt ist.

Wie definieren Sie denn heute Bürgerlichkeit?

Boris Palmer: Es gibt historisch zwei Begriffsteile. Den Citoyen, den Staatsbürger, der in der Revolution von 1848 versucht hat, die Macht zu ergreifen, und jämmerlich gescheitert ist an den konservativen Teilen des Staates …

„Schwarz-Grün würde Dinge machen, die Rot-Grün nie durchgebracht hat“

Christoph Palmer: Jetzt fehlt nur noch: an der CDU!

Boris Palmer: … an restaurativen Eliten. Die zweite Tradition ist der Wirtschaftsbürger. Die Liberalen waren damals in den Städten auch jene, die die Gewerbefreiheit haben wollten. Wir haben heute beide Traditionen. Die Grünen verkörpern die Tradition des Citoyens, während die FDP und Teile der CDU Freiheit auf Gewerbefreiheit reduzieren.

Der altruistische Bürger ist der grüne, der merkantil-kapitalistische ist der FDP- oder der CDU-Bürger?

Boris Palmer: Genau. Nicht der soziale Status unterscheidet die beiden Milieus, sondern das soziale Gewissen und das ökologische Bewusstsein. Der FDP-Bürger sagt: Man muss sich anstrengen, dann geht’s einem gut. Und der Grüne sagt: Da treiben gesellschaftliche Weichenstellungen Menschen ins Abseits.

Christoph Palmer: Da hast du dir Gut und Böse ja schön zurechtgeschnitzt, mein Lieber.

Was ist Ihre Definition?

Christoph Palmer: Nach 1945 kennen wir ein klassisches Bürgertum nur sehr eingeschränkt. Es ist eine neue Form von Bildungsbürgertum entstanden. Etwas Positives der Stunde null war zumindest, dass eine soziale und geografische Mobilität stattfindet, eine starke Vermischung der Schichten. Politisch würde ich es heute so beschreiben: Es gibt zwei Volksparteien, die schichtenübergreifend Ansprechpartnerinnen für alle Bevölkerungsgruppen sein müssen: einfache Leute, besser Verdienende. Grüne und FDP konkurrieren um das, was sich aus dem altem Bürgertum entwickelt hat. Dazu gehören auch Postmaterialisten, die nicht rein materiell denken.

Sind das vorbildliche Bürger?

Christoph Palmer: Moment. Das kann gesellschaftliches Engagement sein, aber auch eine hedonistische Lebensführung. Da idealisierst du die grüne Wählerschaft ein bisschen zu sehr, Boris. Ein Großteil der grünen Wählerschaft mischt sich gar nicht ein. Dafür haben sie ja die Grünen.

Christoph, Sie haben als Stuttgarts CDU-Chef bei der letzten OB-Wahl vorgemacht, wie die Partei noch eine urbane Mehrheit organisieren kann: durch Absprache mit dem ausgeschiedenen Grünen-Kandidaten vor der Stichwahl. Sein Name: Boris Palmer.

Christoph Palmer: Die Schnittmengen waren in diesem Fall größer als zwischen SPD und Grünen. Und bei Stuttgart 21, der Verlegung des Hauptbahnhofs unter die Erde, gab es einen mühsamen Weg zum Kompromiss. Die Palmers sind zu Realpolitik in der Lage. Verlässlichkeit und Vertrauen, das gegebene Wort sind für mich Primärtugenden.

Boris Palmer: Der Oberbürgermeister der CDU ist einer der Offensten in der Partei. Der würde niemals einen Muslim-Test verwenden, wenn es ihm nicht verordnet worden wäre. Und die CDU hat inhaltliche Angebote in der Stadtentwicklung und bei der Integrationspolitik gemacht. Und das wird bis heute umgesetzt. Die SPD hat mir einen Fußtritt gegeben und gesagt: Wir haben nichts zu verhandeln.

Haben Sie da schon mal geübt für die Landesebene?

Boris Palmer: Es hat ja gezeigt: Wenn sich grüne Inhalte durchsetzen lassen, machen wir das. Meine Prognose ist aber, dass es nach der Landtagswahl inhaltlich leider nicht gehen wird.

Christoph Palmer: Solange die FDP stabil ist, wäre die CDU schlecht beraten, sich auf ein Experiment einzulassen. Und was die Zukunft betrifft: Man muss gestalten wollen. Ich bin wie Boris allergisch gegen Politiker, die nicht gestalten wollen, sondern nur labern. Wenn man zu gemeinsamen Schnittmengen kommt, kann man was zusammen machen. In der Kommunalpolitik leichter als in der Landespolitik, in der Landespolitik leichter als in der Bundespolitik.