: Schneechaos, Eiche und Eber
Nach den letzten Niederlagen gegen Hannover und Nürnberg hatte die Hoffnung etwas gelitten. Nun wurde ihr wieder aufgeholfen, und Deutschlands führende Tor- und Siegmaschine geriet ins Stottern – wenn auch nicht in eine Sinnkrise. Betrachtungen eines HSV-Fans nach dem Auswärtssieg über Bayern München
All zu große Erwartungen an einen Erfolg im Auswärtsspiel gegen Bayern München hatte ja eigentlich niemand, der es mit dem Hamburger HSV hält – auch wenn dessen Trainer Thomas Doll betonte, es gebe keine größere Motivation für seine Mannschaft als die Chance, den Nimbus der unbesiegten Bayern in deren eigenen Stadion zu brechen. Die Hamburger hatten die Gelegenheit ja schon einmal im Pokal verstreichen lassen.
Zu groß waren die Vorbehalte, die sich im Vorfeld aufgebaut hatten. Sollte es tatsächlich möglich sein, München zu schlagen? Wirklich berechtigte Hoffnung bestand nicht auf einen Auswärtssieg des HSV bei den Bayern, der die Meisterschaft wieder offener gestalten würde. Die Niederlagen gegen Hannover und Nürnberg hatten den Glauben, der HSV könnte den Titel nach Hamburg holen, relativiert. Ein Blick auf die Tabelle genügte, um zu verstehen, wer den deutschen Vereinsfußball regiert: Bayern München. Der Verein arbeitet wie eine Maschine nach der Formel f(x) = Effizienz x Tradition x Dominanz zum Quadrat. Das ist die Funktion des nationalen kickenden Daseins – und der HSV muss nach zu vielem Straucheln und Stolpern mit den Konkurrenten aus Bremen und Gelsenkirchen darum kämpfen, wer die 1. Ableitung dieser Funktion darstellen darf.
Dabei spielt der HSV die beste Saison seit mehr als zwei Jahrzehnten, und es sind noch immer zwei Titel möglich. Stück für Stück manifestiert sich im Norden eine Macht, seit Trainer Thomas Doll und Sportchef Dietmar Beiersdorfer die Möglichkeiten der Mannschaft entdeckten – und förderten. Wie ein riesiges Ölfeld schlummern sie unter dem Hamburg Stadtbild. Stolz sind die HSV-Fans schon auf ihren Verein. 7.000 von ihnen begleiteten die Mannschaft am Wochenende nach München. Trotz Schneechaos, trotz streikenden Straßenmeistereien, trotz Verspätung und Kälte und ungewisser Heimreise.
Belohnt wurden sie nicht nur durch zwei herrliche Treffer von Demel und de Jong. Sondern vor allem mit dem Gefühl, als erste Gäste überhaupt mit einem Siegergrinsen aus der Bayernfestung zu marschieren. Kein Tifosi aus Mailand oder Turin und auch kein grün-weißer Bremer, sondern die Hamburger haben Münchens Siegmaschine im schönsten Schneegestöber zerlegt. In gewisser Weise war das der erste Titel, den es in dieser Saison zu vergeben gab. Glückwunsch HSV! Auf dessen Heimreise bekam der ewig peinliche Vereinsklassiker eine Daseinsberechtigung: „Ich bin schlau, ich bin Fan vom HSV“.
Und die Bayern? Sie reagieren erstaunlich gelassen. Was juckt es die deutsche Eiche, wenn sich ein Eber an ihr schabt. Die Maschine Bayern München hat andere Primärziele. So ließ man die HSV Fans feiern. Man würde ohnehin warm und fest schlafen, wenn die Hamburger auf der Heimreise irgendwo im eisigen Schnee in Mitteldeutschland festfrieren. Lars Klemm