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Archiv-Artikel

Lächelnde Verlierer

Die Angst des Torwarts vor den letzten fünf Sekunden: Mit der 32:34-Heimniederlage gegen den ungeliebten Nachbarn THW Kiel erreichte der SG Flensburg-Handewitt das Halbfinals in der Handball-Champions-League. Das Hinspiel in Kiel hatten die Flensburger mit 32:28 für sich entschieden

„Man hat vor, das und das zu machen, und dann kommt plötzlich etwas anderes dazwischen“, sagt der Kieler Trainer

Aus FlensburgChristian Görtzen

Montpellier! Dieser Name lässt die Anhänger der SG Flensburg-Handewitt schaudern und sie an eine der schlimmsten Niederlagen ihres Vereins denken. Vor fast genau einem Jahr, am 13. März, trug sich das Drama zu – ebenfalls im Viertelfinale der Handball-Champions-League. Eigentlich hatten die Norddeutschen damals das Wunder schon vollbracht. Der 13-Tore-Rückstand aus dem Hinspiel war getilgt; Flensburg führte beim Ertönen der Schlusssirene mit 32:18, und die Begeisterung des Publikums kannte keine Grenzen mehr. Doch die Freude kam zu früh. Den Franzosen wurde von den Schiedsrichtern noch ein Freiwurf zugesprochen. Aus spitzem Winkel – vom linken Eckpunkt des Spielfeldes – trafen die Gäste an der SG-Mauer vorbei zum 32:19 ins Tor.

Am Sonnabend schrammte Flensburg nur knapp an einem Déjà-vu der bittersten Art vorbei – unter umgekehrten Vorzeichen allerdings: die SG war mit einem Vier-Tore-Vorsprung (32:28) in das Viertelfinal-Rückspiel gegen den THW Kiel gegangen. Die Schlusssequenz dieses denkwürdigen, dramatischen Spiels aber erinnerte vermutlich alle SG- Fans unter den 6.000 Zuschauern in der ausverkauften Flensburger Campushalle an das Montpellier-Heimspiel.

Mit 31:34 lag Flensburg am Sonnabend gegen die Kieler „Zebras“ kurz vor Schluss zurück. Dieses Ergebnis reichte den Gastgebern. Mit einem weiteren Gegentor aber wäre alles vorbei gewesen – wie vor Jahresfrist gegen Montpellier HB. Fünf Sekunden waren gemäß Hallenuhr noch zu absolvieren, als die in Überzahl spielenden Kieler einen Freiwurf zugesprochen bekamen. Genau von der Position, die den Flensburgern vor einem Jahr gegen Montpellier so viel Unheil verheißen hatte.

THW-Trainer Noka Serdarusic nahm eine Auszeit, um sein Team auf den finalen Spielzug einzuschwören. Beschlossen wurde, dass der Ball über Henrik Lundström und Nikola Karabatic zu Kapitän und Spielmacher Stefan Lövgren gepasst werden sollte. Der Schwede wiederum sollte mit einem hohen Anspiel seinen wurfgewaltigen Landsmann Kim Andersson in die bestmögliche Position bringen.

In der Theorie klang das vielversprechend, doch in der Praxis misslang der finale Pass. Lövgrens Zuspiel aus dem Handgelenk fand den Adressaten nicht. Der Ball sprang ins Seitenaus. Lars Christiansens Treffer zum 32:34-Endstand ins leere Kieler Tor ging im Jubel der Zuschauer unter.

Zum Einzug ins Halbfinale hätte es auch ohne dieses Tor in letzter Sekunde gereicht. „Es war wie gegen Montpellier, es war die gleiche Ecke und es war genauso spannend. An diese Szene habe ich sofort denken müssen, als Kiel den Freiwurf bekam. Nur das Ende war dieses Mal besser“, sagte Joachim Boldsen. Der Flensburger Rückraumspieler war nach nicht einmal der Hälfte der Spielzeit durch eine Zerrung im linken Oberschenkel zum Zuschauen verurteilt worden.

Als der Sieg feststand, gab es auch für den dänischen Nationalspieler kein Halten mehr. Die Flensburger Spieler, Trainer und Betreuer hüpften über das Parkett, streckten immer wieder zum Zeichen des Triumphes die Arme hinauf zur Hallendecke, bildeten einen Tanzkreis und zelebrierten mit ihren vor Glückseligkeit zappelnden Fans die „Welle“. SG-Manager Torsten Storm ballte seine Fäuste und blickte zwei, drei Mal dankbar nach oben – so, als wollte er sich dafür bedanken, dass seine Stoßgebete erhört worden waren. Das Glück stand Storm ins Gesicht geschrieben, sein hellblaues, verschwitztes Hemd steckte längst nicht mehr akkurat in seiner Hose. Dem Kieler Team und seinen Anhängern blieben nur neidische Blicke.

Flensburg feierte. Etwas Großes wollte die SG im 100. Europapokalspiel der Vereinshistorie und dem 51. Landesderby mit dem THW Kiel leisten. Das Resultat übertraf die Erwartungen: Die Flensburger bezwangen im wichtigsten Vereinswettbewerb der Welt nicht nur den ungeliebten Nachbarn – sie überwanden ganz nebenbei auch noch ihr Montpellier-Trauma. Süßer kann ein Sieg nicht schmecken.

Die Kieler haderten derweil mit ihrem miesen Auftritt im Hinspiel. Am Dienstag, beim 28:32, lief rein gar nichts. In der Campushalle dagegen boten sie eine Leistung, die eines Deutschen Meisters vollauf würdig war. Es lief eigentlich alles nach Plan – bis auf das Ende. Zur Pause führten die „Zebras“ mit einem Treffer, Mitte der zweiten Halbzeit mit zwei und fünf Minuten vor dem Ende erstmals mit drei Toren Differenz.

Ob sie nun, wie auf der Hallenuhr zu lesen war, noch fünf Sekunden Zeit für den letzten Angriff zur Verfügung hatten, oder acht, wie es die Zeitnehmer der Europäischen Handball-Föderation den Kielern bedeuteten, war unerheblich. Die guten isländischen Schiedsrichter hatten schon vor dem letzten Freiwurf den Arm erhoben, um beiden Teams und den Zuschauern anzuzeigen, dass sie auf Zeitspiel der Kieler erkannt hatten. Ein Ausspielen der letzten acht Sekunden wäre also kaum möglich gewesen. Kiel war zum Handeln gezwungen. Die Gefahr, dass die Referees auf Freiwurf für die Gastgeber hätten entscheiden können, war zu groß.

„Wir haben heute engagiert und couragiert gespielt. Zum Schluss hat uns einfach das Glück gefehlt“, sagte THW-Coach Noka Serdarusic auf der Pressekonferenz. Als die Frage aufkam, ob seine Spieler alle den vorgegebenen letzten Spielzug verstanden hätten, wurde Serdarusic fast zum Philosophen. „Sehen Sie“, beschied er den versammelten Medienvertretern, „das ist wie im richtigen Leben: Man hat vor, das und das zu machen, und dann kommt plötzlich etwas anderes dazwischen. Wenn ich sagen sollte, was man in diesen letzten Sekunden noch alles hätte machen können, würden wir hier noch bis Mitternacht sitzen.“

Dass seine Mannschaft bis zum Schluss des Spiels alle Trümpfe in der Hand hielt, hatte Noka Serdarusic zum großen Teil Nikola Karabatic zu verdanken. Der französische Europameister rehabilitierte sich mit einer Weltklasseleistung (10/2) für seinen schwachen Auftritt am Dienstag (2). „Wir wollten heute den richtigen THW Kiel zeigen, und ich denke, das ist uns gelungen. Ich weiß aber nicht, was schlimmer ist: Mit vier Toren zu verlieren oder hier in Flensburg mit drei Toren zu gewinnen“, sagte der Rückraumspieler.

Im Team des Siegers ragte Johnny Jensen heraus. Wegen eines grippalen Infekts stand der Einsatz des Norwegers bis kurz vor dem Anpfiff auf der Kippe. Er habe sich in der Nacht, vor dem Spiel und noch einmal in der Halbzeitpause übergeben, sagte Jensen. Das hielt den Routinier nicht davon ab, die SG-Abwehr bestens zu organisieren und vier Tore zu erzielen.

Der Flensburger Trainer Kent-Harry Andersson atmete nach dem Spiel erst einmal tief durch. „Ich habe erwartet, dass es eine enge Partie werden würde. Mir war klar, dass uns die Kieler mit ihrer schnellen Mitte kaputt laufen wollten. Du musst schon gerne mit zwölf Toren führen, um dir gegen Kiel sicher sein zu dürfen“, sagte Andersson.

Nur ein Wunsch blieb dem Schweden verwehrt: Er hätte im Halbfinale am liebsten gegen Barcelona gespielt. Doch die Katalanen sind im innerspanischen Duell an Portland San Antonio gescheitert. In Flensburg wurde trotzdem die ganze Nacht gefeiert.