piwik no script img

Archiv-Artikel

In der U-Bahn schmelzen

Von wegen Melancholie als kreativer Urgrund: Im „Salon Noir“ der Neuen Nationalgalerie hatten sich Dr. Motte, Miss Brandenburg und ein Pfarrer nicht allzu viel zu Wagners „Liebestod“ zu sagen

VON NINA APIN

Gläsern ragt die Neue Nationalgalerie in den Nachthimmel. Die „Melancholie“-Ausstellung im Untergeschoss hat geschlossen, die lärmenden Besuchermassen haben das Gebäude verlassen. Hinter einem schweren Vorhang geben sich einige Großstadtmelancholiker der Nacht hin: Spärliches violettes Licht beleuchtet ein Matratzenlager, die Leinwand an der Stirnseite des Saals zeigt in Großaufnahme ein in innigem Kuss verschmolzenes Paar.

Digitale Laufschrift in Rot wirft Fragen ins Dunkel: „Kennen Sie Ekstase? Wann waren Sie das letzte Mal eifersüchtig?“ An der Bar steht ein Trio, wie von Edward Hopper hingemalt: eine junge blonde Frau mit einer Schärpe um die Brust, ein grau melierter Herr und ein blasser Wollpulliträger mit runder Brille. Der Mann daneben heißt Rainer Kranich und ist verantwortlich für den „Salon Noir“, das abendliche Begleitprogramm zur „Melancholie“-Ausstellung. Ein Mammutprojekt: 120 Quadratmeter Ausstellungsfläche in schwarzer Box werden drei Monate lang mit 63 Veranstaltungen bespielt. „Wir feiern die Melancholie als Urgrund jeder Kreativität“ – so großformatig klingt die Leitidee des Programms aus Kranichs Mund.

Er kann aber auch nüchterner: „Von Depression halte ich gar nichts“, sagt Kranich gerade in dem Moment, als „Isoldes Liebestod“ aus Richard Wagners „Tristan und Isolde“ aus den Boxen schallt. Schweres Geschütz, das die lagernden Besucher tiefer in die Matratzen drückt: Isolde, gebeugt über ihren von eigener Hand gestorbenen Geliebten Tristan, wirft sich dem Tod in die Arme, um im Jenseits die Erfüllung ihrer Liebe zu finden. Ein Paradigma dramatisch-romantischer Liebe – in einer „Liebesshow“ will der Performance-Künstler Peter Kees darüber ganz kontemplativ mit Gästen reden und hat zusammengeführt, was nicht zusammengehört: eine Schönheitskönigin, einen Pfarrer und den Erfinder der Love Parade. Die sollen jetzt über den Liebestod und die Möglich- bzw. Unmöglichkeit der Verschmelzung zweier Menschen diskutieren. Eros, Agape und Ayeah, sozusagen.

„Gehen die Getränke für den da auf Künstler?“, unterbricht der junge Barkeeper und deutet auf den blassen Wollpulliträger. „Natürlich, Mann, das ist Dr. Motte!“, zischt Kranich. Als der Techno-Großmeister seinen Sprudel bekommen hat, verklingen die letzten Akkorde des „Liebestods“, und Dr. Motte nimmt Platz neben Wlada Schüler, der 3. Miss Germany und amtierenden Miss Brandenburg. Moderator Peter Kees sitzt neben dem katholischen Pfarrer Dieter Wellmann. Kees animiert die Besucher im dunklen Saal zum Knutschen und nimmt seine Gäste ins Visier: „Was bedeutet der Liebestod für Sie?“ Miss Brandenburg ist überfordert. Der Pfarrer warnt vor der entgrenzenden Kraft der Liebe. Und Dr. Motte kann mit der Wagner’schen Dramatik null anfangen: „Wagner ist eher so Kopfbeat, ohne Arsch. Da fehlt für mich die Euphorie.“

Der Moderator sieht sich gezwungen, in seichteres Fahrwasser zu wechseln. Man plaudert ein wenig über die Trennung von Eros und Liebe: „Eros ist für mich etwas Göttliches“, schwadroniert die Miss, dem Pfarrer entfährt ein „Mein Gott noch mal!“ Eine spontane Publikumsbefragung zur Überbrückung der einsetzenden peinlichen Pause ergibt, dass die Anwesenden nicht an die Liebe bis zum Tod, sondern an den Lebensabschnittsgefährten glauben. Die nächste Ernüchterung, schnell wird da noch einmal Wagner eingespielt. Doch dadurch wird auch nichts erhabener, höchstens skurriler: Dr. Motte erzählt, wie es ihm anno 1992 in der U-Bahn gelang, mit dem Geist einer jungen Frau zu verschmelzen: Zwischen Schlesischem Tor und Möckernbrücke habe er durch ihre Augen gesehen. Miss Brandenburg berichtet von einer gelungenen Verschmelzung mit einem Banknachbarn während des Unterrichts. Nur Pfarrer Wellmann ist traurig, dass es ihm noch nicht geglückt ist, eins mit Gott zu werden.

Nach etwa 60 Minuten Diskussion treten die Diskutanten ab – die Besucher haben sich dazu mehrheitlich schon sehr viel früher entschlossen –, Isolde stirbt zum dritten Mal den Liebestod, und eine junge Frau fragt ihre Freundin ratlos: „Und was haben wir jetzt gelernt?“ Vielleicht, dass Wagner und Dr. Motte einfach nicht dasselbe meinen, wenn sie „Verschmelzung“ sagen.