La generazione praticante

Hippen empfiehlt Mit „Das ganze Leben liegt vor Dir“ hält Paolo Virzí dem neoliberalen Italien einen komödiantischen Spiegel vor und kombiniert dabei Heidegger mit „Big Brother“

Der konventionelle Rahmen wird mit genau beobachteten Details und satirischen Zuspitzungen der herrschenden Zustände gefüllt

Von Wilfried Hippen

Das Genrekino kann oft mehr soziale Realität und Gesellschaftskritik in seine kommerziellen Produkte schmuggeln als der ästhetisch und politisch ambitionierte Film. Wenn der Thriller spannend oder die Komödie komisch ist, dann sind sowohl die Produzenten wie auch das Publikum zufrieden, und kaum einer stört sich an einem subversiven Subtext. Ein schöner Beleg dieser These ist „Tutta La Vita Davanti“, eine italienische Sommerkomödie von 2008, die auf einigen internationalen Filmfestivals beim Publikum sehr beliebt war und so auch auf dem Filmfest München entdeckt wurde.

Der Humor ist da oft alles andere als subtil, und bei einer Beischlafszene im zu kleinen Auto geraten Arme und Beine schon mal an die Armaturen, sodass sich Türen, Fenster und Dachluke rhythmisch öffnen und schließen. Die Heldin Marta ist die junge Unschuld, die durch Konflikte und Versuchungen zu einer emotional reicheren Frau wird, weil sie die Täuschungen der materiellen Welt schließlich durchschaut. Das ist schon oft erzählt worden, aber die alte Geschichte wirkt hier erstaunlich frisch und modern, weil sie im ultramodernen Italien Berlusconis angesiedelt ist. Das Talent des Regisseurs Paolo Virzí besteht nun darin, den konventionellen Rahmen mit genau beobachteten Details und satirischen Zuspitzungen der herrschenden Zustände zu füllen.

Marta hat gerade ihr Philosophiestudium cum laude abgeschlossen, aber auf dem Arbeitsmarkt hilft ihr das wenig, und so muss sie sich mit Jobs wie Babysitten über Wasser halten. In einem Callcenter macht sie dann als eine der vielen Verkäuferinnen am Telefon, deren Arbeitsplätze in einem riesigen Büro nicht umsonst wie Bienenwaben aussehen, schnell Karriere. Denn sie kann ihre praktische und analytische Intelligenz einsetzen und durch geschickte Nutzung des Internets die Kunden effektiver betrügen als ihre Kolleginnen. Die allmorgendliche Freudengesänge, mit denen die Arbeiterinnen sich unter der Leitung einer junggespritzten Bienenkönigin motivieren, mögen für Martha und die Zuschauer noch wie ein amüsantes Ritual wirken, doch schnell wird klar, wie skrupellos die jungen Frauen ausgenutzt werden, und wie tief diese ganz schnell ohne jede soziale Sicherung fallen können.

Besser als die Lacher sind die genau beobachteten Details. So etwa bei einem kleinen Mädchen, das vor dem Einschlafen auf das von ihrer ständig beschäftigten Mutter gesendete „Schlummervibrieren“ ihres Handys wartet. Ein schöner Running Gag des Films besteht darin, dass Martha versucht, mit ihrem philosophischen Rüstzeug die Verhältnisse zu beschreiben. So erzählt sie jener Tochter ihrer Freundin als Gute-Nacht-Geschichte das Höhlengleichnis von Plato (den diese natürlich gleich in Pluto umbenennt), um ihr so einen Begriff von der allgegenwärtigen Täuschung durch die Medien zu geben. Das Phänomen „Big Brother“ interpretiert sie als eine praktische Kritik von Heideggers Phänomenologie.

Die Komik entsteht durch die Fallhöhe zwischen den Ebenen, auf denen Martha sich mit der gleichen Souveränität bewegen kann. Vielleicht wirkt sie dabei manchmal zu positiv und ungebrochen – der Film basiert eben auf einem autobiografischen Bestseller von Michaela Murgia. Aber auch wenn Virzí die gute Laune nicht durch zu viel soziales Elend verderben will, und beim großen Finale der Firmenchef ein blutiges Ende findet (wenn da eine Putzfrau morgens in ein Büro eintritt, kann wohl jeder Kinogänger vorhersagen, dass sie gleich zu schreien beginnt), hat er genug Widerhaken eingebaut, sodass man das Grausen vor dieser schönen neuen Welt bekommt.