: Das Drama der Aufsteiger
SPD Warum 1973 das Jahr war, nach dem es mit der Sozialdemokratie bergab ging, erfährt man in dem neuen Buch des Parteienforschers Franz Walter
Die SPD steckt in einer tiefen Krise. Sie hat die letzte Bundestagswahl verloren, ihre Mitgliederbasis schmilzt, in ihrem Inneren herrscht bleierne, geistige Leere. All dies sind nicht bloß Ergebnisse einer normalen Erschöpfung nach elf langen Regierungsjahren. Das gesamte sozialdemokratische Modell steht, nicht nur in Deutschland, auf der Kippe.
Wann begann diese Malaise? Der Politikwissenschaftler Franz Walter terminiert den Beginn des Niedergangs auf das Jahr 1973. Das klingt eher originell als richtig, hat aber viel für sich. Damals endete mit der Ölkrise das Wirtschaftswunder, und seitdem gehören Massenarbeitslosigkeit und Staatsverschuldung zum Regierungsgeschäft. Die Staatsschulden schränkten die Reichweite antizyklischer Konjunkturpolitik und Sozialpolitik dramatisch ein – damit erlitt auch die sozialdemokratische Vision, via Staat die Gesellschaft zu steuern, Schiffbruch. Zudem zerfiel die Arbeitnehmerschaft in zwei Teile, zwischen denen Solidarität zusehends schwieriger zu organisieren war. Das Gros stieg, beschleunigt durch die Bildungsreform, sozial auf, andere versanken in Dauerarbeitslosigkeit. Die „Entzauberung des Keynesianismus“ in den 1970er-Jahren ist, so Walter, die Folie für das Versagen und die blinde Marktgläubigkeit von Rot-Grün nach 1998.
Im Kern ist die Krise der SPD die Kehrseite ihres spektakulären Erfolges. Die Sozialdemokratie hat ihrer Klientel per Bildung den Weg nach oben geebnet. Kein Wunder, dass mit Gerhard Schröder ein klassischer Aufsteiger zur Schlüsselfigur der Partei wurde. Der Aufsteiger neigt dazu, sein Herkunftsmilieu zu verachten und zu demonstrieren, dass er endlich oben angekommen ist. Die rot-grüne Steuerpolitik, der „Kotau vor den finanzkapitalistischen Entgrenzungen“ (Walter), war so gesehen ein für Aufsteiger typischer Akt der Überanpassung. Das Tragische war, dass der Typus Schröder nassforsch die traditionellen Werte der SPD wie Gleichheit und Verteilungsgerechtigkeit abräumte, aber nichts an dessen Stelle zu setzen vermochte – außer dem Glauben, dass jeder es schaffen kann. Dafür aber braucht niemand die SPD.
Walter entwirft auf knapp 130 Seiten gewohnt schwungvoll, in bildhafter, vitaler Sprache ohne akademische Verrätselungen eine Skizze dieser sozialdemokratischen Dialektik. Wer taz und Spiegel liest, dem werden manche Thesen vertraut vorkommen – und doch ist dies eine prägnante Schilderung der großen Linien der Sozialdemokratie. Es ist ein Buch, in dem fast alles einleuchtet – außer dass Reichskanzler Brüning nicht Franz, sondern Heinrich hieß.
Und wie geht es weiter? Natürlich muss die neue Parteispitze versuchen, die SPD, die zum Akklamationsanhang für Regierung und Fraktion verkommen ist, in der Opposition wiederzubeatmen. Einen Königsweg gibt es dafür nicht. Auch Elemente direkter Demokratie, wie die Urwahl des Spitzenpersonals, sorgen nicht automatisch dafür, dass die in Apathie gefallenen Genossen aufwachen. Walter bedenkt die stromlinienförmig gewordene SPD mit viel Spott. Umso überraschender wirkt seine Schlusspointe: Die SPD sei eben die Partei der Bildungsaufsteiger geworden. Das gelte es anzuerkennen. Alle Versuche, die alte SPD der kleinen Leute zu renovieren, seien bloß nostalgisch. Mag sein. Eine interessante Frage aber klammert Walter aus: Kann diese sozial verengte Partei linke Bündnisse schmieden?
STEFAN REINECKE
■ Franz Walter: „Vorwärts oder abwärts? Zur Transformation der Sozialdemo- kratie“. Suhrkamp, Berlin 2010, 100 Seiten, 12 Euro