Worpswede, mi Amoore

ERBSCHAFT „Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel“: Moritz Rinkes kenntnisreiche Künstlerdorf-Komödie mit schaurigem Ausgang

VON HENNING BLEYL

Bekannt ist, dass die Geburtsurkunde jedes zweiten Hip-Hauptstädters in der Provinz ausgestellt wurde, oft in deren tiefsten Varianten. Aber nur wenige können aus dem längst abgestreiften Lokalkolorit derart viel literarisches Kapital schlagen wie Moritz Rinke. Sein Romandebüt ist eine wunderbare Abrechnung mit dem Umstand, in einer notorisch nervigen Künstlerkolonie aufgewachsen zu sein.

Rinke, längst als Dramatiker etabliert, kommt aus Worpswede. Das ist das Malerdorf im Teufelsmoor bei Bremen, in dem beispielsweise Heinrich Vogeler und Paula Modersohn-Becker lebten. Mit Letzterer ist Rinke auch irgendwie verwandt. Vor allem hat er im selben Haus wie die Malerin gewohnt: Die Schläge mit der Fliegenpatsche gegen Fensterscheiben, um platt gedrückte TouristInnennasen zu vertreiben, gehören zu Rinkes Lieblingsanekdoten.

In „Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel“ erzählt Rinke eine andere Hausgeschichte. Es geht um ein stattliches Worpsweder Bildhauer-Anwesen, das Paul Wendland als Zukunftssicherung ansieht. Als Berliner Erfolglos-Galerist hat er die großväterliche Immobilienerbschaft fest eingeplant. Rinke gibt diesem Plot mit einer ebenso schlichten wie schlagenden Setzung eine Initialzündung: Das Anwesen versinkt sukzessive im Moor.

Dies Symbolbild sitzt. Es passt ebenso auf die Lebensplanung der Rinke’schen Altersgenossen der Generation „sorglose Kindheit in den 70ern“, deren Elternhäuser leider in den Löchern der Pflegeversicherungslücken verschwinden wie das Haus im Teufelsmoor. Das Matschige kann sowohl für die Sahnetortendichte des touristisch übererschlossenen Dorfes stehen als auch für den Morast der Vergangenheit.

Letzterer kommt Wendland beim Versuch der Hausrettung in die Quere. Die Grabungen zum Setzen neuer Gründungspfähle lassen den Boden bislang unbekannte Werke des Großvaters ausspucken: überlebensgroße Statuen des Reichsbauernführers. Der Charme der weiteren Erzählung liegt in der Nonchalance, mit der Wendland versucht, die den Verkaufspreis drückenden Zeitzeugen verschwinden zu lassen. Nicht wegen der unvermeidlich chaplinesken Missgeschicke beim Entsorgen, sondern wegen der Eindeutigkeit (und Nachvollziehbarkeit) der Prioritätensetzung: Vergangenheitsaufarbeitung immer – nicht aber auf Kosten der eigenen Alterssicherung.

Es ist wohltuend, wie locker Rinke mit der in Worpswede ziemlich verkrampft geführten Diskussion über die NS-Zeit umgeht. Nebenbei entwirft er ein pittoreskes Panoptikum des heutigen Künstlerdorfpersonals: Da gibt es den seit Jahrzehnten im kreativen Fluss gehemmten Himmelsmaler, den dilettierenden Dauerstipendiaten und reichlich Mittfünfziger als nervige Malkursteilnehmerinnen. In diesem Künstlerfreunde-Kosmos spielen traditionell auch sozialdemokratische Kanzler eine Rolle. Brandt war mal bei Großvater zum Tee im Atelier!, lautet eine der Familienlegenden – untermauert von einem erst angebissenen und dann eingefrorenen Stück Butterkuchen.

Wer aus Worpswede kommt, kennt diesen Reminiszenzenwahn, wie Rinke ihn auch anhand des „Rilke-Topfes“ schildert: Der alte Patentdampftopf, eine Hinterlassenschaft des nur kurz in Worpswede weilenden Dichters (Rainer Maria), wird in Pauls Familie gern zum Beeindrucken der Gäste auf den Tisch gestellt. Bei solchen Schilderungen erweist sich Rinkes Schreiben als szenisch im besten Sinn. Und wenn er die Akteure seines geschickt komponierten Personentableaus an Schauplätzen wie dem Dorfpuff aufeinandertreffen lässt, zeitigt das angenehm überzogene bühnenaffine Effekte – was ebenso für das Sprengen einer Hochzeit mithilfe eines Güllewagens gilt. Wie theatral Rinke auch als Romanautor denkt, zeigt sich schließlich an der finalen Häufung von wundersamen Wendungen und Wandlungen – schaurige Erkenntnisse inklusive.

Moritz Rinke: „Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010, 496 Seiten, 19,95 Euro